Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Gehirnfunktion auf zwei kausal miteinander verbundenen Ebenen vorstellen: einem vorübergehenden Aktivitätsmuster und einer dauerhaften Gedächtnisspur. Ein Vergleich mit den Trampelpfaden von Schafen kann zur Klärung dieser Unterscheidung beitragen. Stellen sie sich vier üppige Bergwiesen – A, B, C und D – vor. Eine Schafherde wandert von A nach B nach C und zurück zu A, meidet aber aus irgendeinem, für uns unwichtigen Grund D. Ihre Wanderbewegung (oben links in Abbildung 8.1) hat die Vegetation auf ihrem Weg etwas niedergedrückt, sodass der Ansatz eines Pfads entstanden ist (oben rechts in Abbildung 8.1). Interessant daran ist, dass ihre Wanderbewegung nicht nur der Grund für den Pfad ist, sondern dass der Pfad nun auch der Grund für ihre künftige Wanderbewegung ist. Das nächste Mal, wenn sich die Herde in Bewegung setzt, wird sie wahrscheinlich diesem Weg folgen, weil sich auf ihm leichter gehen lässt. Das wiederum bewirkt, dass der Pfad noch leichter zu sehen ist, weshalb ihm die Schafe in Zukunft mit noch höherer Wahrscheinlichkeit folgen werden. So können wir das Muster ihrer Wanderbewegung auf zwei Ebenen beschreiben: einer vorläufigen Darstellung ihres Bewegungsmusters in dieser Woche (linke Abbildung) und einer dauerhafteren, strukturellen Beschreibung der Pfade, die in dieser Bergregion sichtbar sind (rechte Abbildung), wobei beide in einer wechselseitigen Kausalbeziehung stehen.
Abbildung 8.1
Wenn Schafe einem Weg von A–>B–>C–>A folgen, ohne D einzuschließen (oben links), erzeugen sie eine dauerhafte Spur niedergetrampelter Vegetation (oben rechts), die sie in Zukunft veranlassen wird, demselben Weg zu folgen. Entsprechend verhält es sich, wenn wir einen Hund sehen: Unsere Ohren-, Nasen- und Schwanz-Neuronen sind aktiv (durch die fette Umrandung symbolisiert), unsere Horn-Neuronen jedoch nicht (unten links). Das verstärkt die Verknüpfungen zwischen den aktiven Neuronen, nicht aber mit den Horn-Neuronen (unten rechts), und das wird in Zukunft die Bildung eines ähnlichen Aktivitätsmusters bahnen.
Hebb meinte, die Situation im Gehirn sei ähnlich. Wenn wir zum allerersten Mal einen Hund sehen, werden zahlreiche visuelle Neuronen, die verschiedene Merkmale des Hundes repräsentieren – Ohren, Nase, Schwanz und so fort –, gleichzeitig aktiv. Andere Neuronen, die beim Hund nicht vorhandene Merkmale repräsentieren, bleiben inaktiv (links unten in Abbildung 8.1), und schon haben wir eine vorläufige Regel für das, was einen Hund ausmacht. Hebb nimmt an, dass alle diese Neuronen bei der Geburt relativ zufällig miteinander verbunden sind, dann aber seiner Regel folgen: »Neuronen, die zusammen feuern, vernetzen sich.« VI Da beim Anblick eines Hundes die Neuronen, die auf Ohren, Nase und Schwanz reagieren (Abbildung 8.1 unten links), zusammen feuern, nicht aber diejenigen, die etwa auf Räder reagieren, vernetzen sich die Ohren-, Nasen- und Schwanz-Neuronen, das heißt, die ehemals schwachen Verknüpfungen zwischen diesen Neuronen verstärken sich. Hingegen werden die Rad-Neuronen kein Bestandteil dieses verstärkten Verschaltungsmusters (Abbildung 8.1 unten rechts).
Wenn wir einen Hund viele Male gesehen haben, werden die synaptischen Verknüpfungen, die die verschiedenen Aspekte des Hundes repräsentieren, so stark, dass sie sich im Gehirn als dauerhafte Erinnerungsspur eines Hundes niederschlagen. Wenn wir eine Nase mit spitzen Ohren hinter einer Mauer vorschauen sehen, denken wir, dass sich der Rest des Hundes hinter der Mauer verbirgt, weil die Aktivität in den Nasen- und Ohr-Neuronen jetzt auf die verstärkten Verbindungen übergreift und die Schwanz-Neuronen aktiviert, wodurch unser Vorstellungsbild vom Hund vervollständigt wird.
Die Hebb’sche Regel »Neuronen, die zusammen feuern, vernetzen sich« ist ein echter Triumph der Neurowissenschaft, weil sie komplexe psychologische Phänomene wie klassische Konditionierung und Mustervervollständigung aus einer mechanistisch-lokalen Perspektive erklärt. Die Neuronen, die die Nase und den Schwanz repräsentieren, werden miteinander verknüpft, ohne dass weitere Kenntnisse von Hunden erforderlich sind. Die einfache Tatsache, dass diese beiden Neuronen wiederholt zusammen feuern, erklärt die Entstehung einer Assoziation zwischen Nase und Schwanz. Hebbs Regel lieferte die erste physiologisch begründete Theorie, die die von den Behavioristen beschriebenen Phänomene der klassischen Konditionierung überzeugend erklären
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