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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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Zweitens zeigte sich in Tanias Fairness-Experiment ein hochinteressanter Geschlechter-Effekt: Bei Männern und Frauen wirken sich unterschiedliche Faktoren auf ihre gemeinsamen Schaltkreise aus.
    Um einen Krieg zu beginnen, muss man die Empathie »herunterfahren«
    Solche Unterschiede in der Fähigkeit oder Neigung, Empathie zu modifizieren, könnte in Konflikten wie Kriegen eine besondere Rolle spielen. Die meisten Staaten schicken hauptsächlich Männer und nicht Frauen in den Krieg. Die von den meisten Männern verwendete Doppelstrategie, Freunden, aber nicht Feinden mit Empathie zu begegnen, dürfte ihnen im Krieg sehr zugute kommen. Die Fähigkeit, die Schmerzen eines Feindes nicht mitzufühlen, macht die soldatische Pflicht, den Feind zu töten, erträglicher, während die Empathie für die Kameraden den Zusammenhalt in der Truppe stärkt. Verluste beim Feind sind akzeptabel, während die Verluste in den eigenen Reihen als schmerzlich empfunden werden und den Wunsch nach Rache vergrößern.
    Ganz anders wäre es bei Frauen. Sie empfänden auch die Schmerzen des Feindes, statt sie als befriedigend zu erleben. Natürlich heißt das nicht, dass Soldatinnen Feinden keinen Schmerz zufügen könnten, aber sie würden darunter vermutlich mehr leiden als Männer. Der Umstand, dass sie den Schmerz des Feindes mitempfänden, könnte ihnen auch die Akzeptanz des Schwarz-Weiß-Schemas »wir gegen sie« erschweren, das von so zentraler Bedeutung für die Kriegsführung ist. Alle diese Schlussfolgerungen gehen weit über Tanias Laborexperimente hinaus, doch direktere Empathie-Studien an Soldaten könnten wichtige Erkenntnisse über Geschlechterdifferenzen hinsichtlich der psychologischen Abwehrmechanismen liefern, die Soldaten mobilisieren müssen, um ihre schwierige Pflicht zu erfüllen.
    Die sozialen Gehirne von Frauen und Männern können sich unterscheiden
    Viele von uns sind in einer Kultur aufgewachsen, in der Unterschiede zwischen Männern und Frauen als »politisch nicht korrekt« gelten, gemäß dem zentralen Dogma: »Wir sind alle Menschen, da darf es keine Unterschiede geben.« In den achtziger Jahren meldete sich die amerikanische Feministin und Ethikerin Carol Gilligan von der New York University mit der Auffassung zu Wort, dass die Geschlechter sich hinsichtlich der Grundlage ihrer Ethik möglicherweise erheblich unterscheiden. Sie untersuchte, wie Männer und Frauen moralische Entscheidungen treffen. Ein klassisches Beispiel ist das Heinz-Dilemma. Heinz’ Frau liegt im Sterben, und die einzige Arznei, die ihr das Leben retten könnte, ist sehr teuer. Der Apotheker ist nicht bereit, mit dem Preis herunterzugehen, folglich kann Heinz die Arznei nicht kaufen, die seiner Frau unter Umständen das Leben rettet. Was soll er tun? Und – was noch wichtiger ist – warum? Wenn Dilemmas wie dieses vorgegeben werden, rechtfertigen Männer überall in der Welt ihre Entscheidung (das Mittel zu stehlen oder nicht) auf abstrakte Weise, indem sie die Rechtsgüter gegeneinander abwägen: Schutz des Lebens contra Schutz des Eigentums. Die Argumentation der Frauen gilt häufiger der Frage, wie sich die Entscheidung auf die persönlichen und emotionalen Beziehungen der Menschen auswirken würde. Es hatte den Anschein, als würden die beiden Geschlechter auf etwas unterschiedliche innere Stimmen hören. 68 Frauen ließen sich in ihren Entscheidungen von der Fürsorge für andere bestimmen, während bei den Männern die Triebkraft eher ein abstraktes Gerechtigkeitsgefühl war. Diese Auffassung bleibt umstritten, weil viele Feministinnen fürchten, Gilligan könnte auf diese Weise wieder das Klischee vom guten, fürsorglichen Hausmütterchen und dem klugen, gerechten Hausvater ausgraben. Doch Tanias Befund, dass Fairness sich auf die gemeinsamen Schaltkreise bei Männern, jedoch nicht bei Frauen auswirkt, verleiht Gilligans Thesen eine bemerkenswerte Aktualität und könnte für diesen Unterschied der »inneren Stimmen« ein neuronales Substrat liefern. Tanias Experimente und die einer wachsenden Zahl anderer Forscher liefern immer deutlichere Hinweise darauf, dass sich männliche und weibliche Gehirne in der Tat unterscheiden. Die Frage lautet: Warum?
    Die soziale Realität unserer Vorfahren lässt sich zwar schwer in Erfahrung bringen, aber moderne Jäger-und-Sammler-Kulturen gelten als brauchbarer Anhaltspunkt für die Lebensweise der Menschen in frühen evolutionären Zeiten. In diesen Kulturen gibt es eine klare

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