Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
merkwürdigen Augen an und sagt drohend: »Wenn du auch nur ein Wort sagst von dem, was heute Nacht war, dann kannst du was erleben.«
Wolfgang steht unter Schock. Er verspürt Schmerz und Angst. Schrecklich ist ihm zumute. Was eigentlich geschehen war, dafür hat er keine Worte. Und dann die Angst: Was passiert einem, wenn man darüber spricht? Aber mit wem kann er überhaupt darüber sprechen?
Seinen Eltern sagt er nichts.
Er fühlt sich ganz allein. Da sind zwar seine Cousins, aber dass sie ihm helfen können, glaubt er nicht. Eher, dass sie es weitererzählen. Und dass dann wieder alle über ihn lachen. Oder dass keiner ihm glaubt. Halt lieber die Schnauze, ermahnt er sich.
Wenn sie wieder abfahren, dann denkt man nicht mehr daran. Mit diesem Versprechen tröstet er sich. Dann fängt er an, sich selbst nicht mehr zu glauben. Und so gerät es für ihn allmählich wieder in Vergessenheit.
Fällt den Eltern vielleicht etwas auf? Nein.
Das ist Schäfers Strategie: Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, geht er sofort zum Angriff über. Möglichst am ersten Abend wird der Körper des Kindes benutzt und der Wille gebrochen.
Dann geht es weiter zur nächsten Zeltfreizeit, Missionswoche, Erweckungsveranstaltung oder Tonfilmevangelisation.
Weißt du, wie viel Sternlein stehen?
Ein Opel Rekord mit Anhänger holpert durch die schmalen Straßen der Kleinstadt Gronau im Münsterland; aus den Lautsprecherboxen auf dem Anhänger scheppert das Schlaflied »Weißt du, wie viel Sternlein stehen?« Es soll zur Erweckung rufen, zur Evangelisation.
Am Straßenrand bleiben die Leute stehen und schauen. Auch die 15-jährige Lilli ist dabei. »Ich kann mich genau erinnern«, erzählt sie, »aus der Vereinsstraße kamen sie von der Baptistengemeinde her, dann rein in die Querstraße, über die kleine Kreuzung, so sind sie gefahren. Ich kam gerade vom Einkaufen und hörte die Musik. So hab ich die kennengelernt.«
Weißt du, wie viel Sternlein stehen?
In Gronau im Münsterland nahe der niederländischen Grenze erinnern sich noch viele an diese Zeit der Erweckungen durch Paul Schäfer, dessen unheilvoller Einfluss Dutzende Familien auseinanderriss, einige sogar das Leben kostete. Die Folgen bleiben über Generationen hinweg spürbar.
Schon einmal brachten Wiedertäufer großes Unglück über das Münsterland. Das geschah vor vierhundert Jahren, und Lilli lernt im Heimatkundeunterricht, dass die eisernen Körbe, in denen die zu Tode gefolterten Körper des Holländers Jan van Leiden und der anderen Anführer dieser Sekte zur Schau gestellt wurden, noch immer im Turm der Lambertikirche in Münster hängen.
Lilli ist ein Flüchtlingskind, der Vater war in russischer Gefangenschaft, die Mutter mit vier Kindern in einem Lager in Polen, dann drei Jahre in der Ostzone, die sich inzwischen DDR nennt. Schließlich kamen sie nach Gronau und können hier ihr Einkommen mit einem kleinen Nebenerwerbshof aufbessern: ein bisschen Rübenacker, ein Stückchen Kartoffelfeld, Getreide, ein paar Schweine.
Um wieder Kontakte zu bekommen, schaut man sich nach einer Gemeinde um. Was sie in der Ukraine hatten, würden sie hier nicht finden, aber die Baptisten, so rät jemand aus ihrer alten Heimat Lillis Mutter, die sind so ähnlich wie wir. Also gehen sie hin. Man will kein Außenseiter sein. Man will von der Gruppe angenommen werden. Also bleiben sie. Die Baptisten unterstützen die neuangekommenen Flüchtlinge auch mal mit Hausrat und Geschirr. Bei der Weihnachtsfeier vor drei Jahren durften die Kinder einen Teelöffel behalten. Zur Erinnerung eingraviert: Weihnachten 1953.
Inzwischen ist Hugo Baar Prediger in Gronau, dem können sie zuhören. Am Anfang.
An vielen Wochenenden fährt Lilli nun mit nach Heide, um auch beim Bau des Heims mitzuhelfen. Dort freundet sie sich mit Gudrun Wagner an. Doch Lillis Vater hat Bedenken: »Was fahren die immer dahin?«, sagt er zu seiner Frau. »Und ich weiß gar nicht, was da los ist.« Er sorgt sich wohl, dass wir auf Abwege geraten, denkt Lilli. Die Fünfzehnjährige ist lebhaft, neugierig und geht gern ihren eigenen Weg. Aber sie will auch Freunde finden, etwas erleben, mit jungen Leuten zusammen sein. Dazugehören. Auch Lillis Familie wird Schäfer auseinanderreißen. Die Gemeinde in Gronau wird am schwersten getroffen.
Bis zum Sommer hat Wolfgang Müller den nächtlichen Schock durch Paul Schäfer weggeschoben, so gut er kann. Seit zwei Tagen sind nun Ferien, da sagt die Mutter plötzlich zu ihm: »Morgen
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