Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Und Schäfer trabt hinterher ins Krankenhaus, um die Jugendlichen zu trösten und Zuwendung und Wärme zu verteilen. Das Feld zu bestellen, das er abzuernten gedenkt. Dieses Muster behält er auch später bei.
Doch die Jugendlichen im Krankenhaus lehnen Schäfers Versuch ab, sich auf diese Weise ihre Zuneigung zu erschleichen. Vielleicht ist er es ja, vor dem sie flüchten wollten.
Im Heim schlafen die Jugendlichen in großen Schlafsälen, dreißig Personen pro Raum, dürfen dort aber keinen persönlichen Besitz verwahren. In einer Kleiderkammer gibt es für jeden ein Fach für Wäsche, die nach dem Ermessen der Erzieher zugeteilt wird. In einem Baderaum wird gemeinsam geduscht.
Er käme sehr gut zurecht mit diesen Jungen, sagt Schäfer gern, viel besser als andere Erzieher. Er erzählt auch, dass er schon mal mit dem einen oder anderen Jungen in der Kleiderkammer bete.Er kümmere sich sehr um das Seelenheil der Jungen, um sie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Seinen Weg eben.
Eines Tages, in der Mittagspause, möchte Ida ein Anliegen mit Paul Schäfer besprechen. Sein Zimmer grenzt direkt an den Schlafsaal der Jugendlichen. Sie steht vor seiner Tür, hebt die Hand, um anzuklopfen, da hört sie ein Geräusch. Es hört sich an, als ob jemand etwas ruckartig über den Linoleumfußboden schiebt. Es ist also jemand da, denkt Ida und klopft.
Da hört das Rutschen auf. Sie bleibt stehen und lauscht. Das Geräusch beginnt von Neuem. Er hat mich nicht gehört, denkt sie und klopft noch einmal, lauter. Wieder wird es still. Sie klopft noch einmal.
»Wer ist da?«, ruft Schäfer.
»Ich bin es – Ida.«
»Das geht jetzt nicht«, ruft Schäfer durch die geschlossene Tür.
»Nur ganz kurz«, sagt sie und bleibt hartnäckig; nun hat sie schon mal den Weg aus dem anderen Gebäude hierher gemacht.
Nach einer Weile geht die Tür auf, und Paul Schäfer steht vor ihr. Voll bekleidet. Aber sein Glied ragt aus der Hose.
Ida ist schockiert. Aber was dann geschieht, ist noch verwirrender: Es geschieht gar nichts. Schäfer lässt sie in sein Zimmer eintreten, sie folgt ihm wie in Trance. Er setzt sich in seinen Sessel. So wie er ist. Mit offener Hose und erigiertem Glied. Er weiß es, macht aber keinen Versuch, etwas zu verbergen. Da sitzt er nun stumm im Sessel und beginnt an den Nägeln zu kauen.
Als sie wieder auf dem Flur steht, erinnert sich Ida nicht mehr an den Inhalt des Gesprächs. Nicht einmal, ob überhaupt geredet wurde. Auch wie sie überhaupt aus dem Zimmer gekommen ist, weiß sie nicht mehr.
Der Alltag geht weiter. Das Erlebnis ist so verrückt, dass Ida diese Begegnung in irgendeiner Nische ihres Gehirns auf eine Weise abspeichert, die es ihr möglich macht, weiter mit Schäfer in Kontakt zu bleiben, ihm sogar weiterhin zu vertrauen, ihm zu folgen.
Aber was ist mit Schäfer los?
Er ist kein Nägelkauer. Kann es sein, dass Schäfer in ein kindliches Stadium seiner Entwicklung zurückfällt oder gar in einen kindlichen Anteil seiner Persönlichkeit, als Ida ihn beim Missbrauch eines Jungen überrascht, der schnell ins Nebenzimmer abgeschoben wird, bevor Schäfer die Tür öffnet? Aber warum öffnet er diese Tür überhaupt? Will er überrascht werden? Diese Fragen können nicht mehr geklärt werden.
Vielleicht hätten die Antworten Einblick gegeben in Schäfers eigene Prägungen, über die wenig bekannt ist.
Man weiß, dass Paul Schäfer anfangs eine Kindheit in Armut und Enge erlebte. Seine Eltern ließen sich scheiden, als der Sohn zehn Jahre war. Drei Jahre später heiratete die Mutter wieder, zehn Jahre danach lebte sie mit einem anderen Mann zusammen. Zwei Zimmer nur, Vater, Stiefvater, Freund der Mutter wechseln sich darin ab. 33
Das höchste Risiko, misshandelt oder missbraucht zu werden, haben Kinder in ihrer unmittelbaren Umgebung, also in der Familie. Dabei sind »Stiefväter als Täter deutlich überrepräsentiert« 34 . Es mag sein, dass Schäfer selbst sexuelle Gewalt erlebt hatte. Zumindest erlebte er die Sexualität seiner Mutter – möglicherweise hautnah – mit. Das rechtfertigt keine einzige seiner Taten. Es gibt viele Opfer sexueller Gewalt, und viele von ihnen geben die Gewalt nicht weiter.
Paul war der jüngste von drei Söhnen. Walter, der älteste, stammte aus einer vorehelichen Beziehung der Mutter. Er war Diakon und wurde Pauls Vorbild – Diakon, so nannte sich Schäfer später selbst. Nach 1945 schloss sich Paul Schäfer »Danilo« an, der als »stärkster Mann der Welt«
Weitere Kostenlose Bücher