Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
hinzuzufügen: »Ich könnte es Ihnen nur sagen, wenn Herr Schäfer bei diesem Gespräch anwesend wäre und mich aufforderte, Ihnen die Wahrheit zu sagen.« Doch darauf kommt er nicht.
»Siehst du«, triumphiert Schäfer, als der Freund Bericht erstattet, »es gibt gar keinen Grund. Ich bin nur entlassen worden, weil ich so ein guter Christenmensch bin.«
Nun kriecht Schäfer bei den Böcklers unter. Eine Woche lang helfen er und die Mädchen der Familie bei der Ernte. Man ist vertraut miteinander, waren Ida und Gertrud doch dabei, als Schäfer und die Böcklers im ehelichen Schlafzimmer mit Gott gerungen haben. Dann schickt Schäfer die Mädchen per Anhalter nach München Gladbach. Auch dort kennt er eine Familie, auch deren Sohn hat er sexuell belästigt. Ida weiß nichts davon. Die Familie des Jungen auch nicht. Erst als Schäfer weit weg in Chile ist, wird dieser Sohn den Mut aufbringen, sich seiner Mutter anzuvertrauen.
Ströme werden fließen
Während Ida im Haushalt und in der Fabrik arbeitet, macht Schäfer eine halbjährige Heimleiterausbildung in Brilon. Mit dem Jugendherbergsleiter in Brilon freundet er sich an. Vielleicht kennt er ihn schon von früher. Mehrmals kommt er wieder, veranstaltet dort auch Treffen. Einige Jahre später wird Schäfer eine Gruppevon Jungen und Mädchen mitbringen, die ihren Aufenthalt hier nie vergessen. Auch Wolfgang Müller wird dabei sein. Wenn das Gespräch darauf kommt, sagen sie auch heute, im Alter, noch erschrocken: »Hör bloß auf mit Brilon!«
Im Frühjahr 1954 findet Ida in München Gladbach Arbeit als Küchenhilfe im Paul-Gerhardt-Heim, einem Lehrlingsheim, das in einem umgebauten Bunker eingerichtet wurde. In diesem Heim gibt es auch einen Bereich für »nichtsesshafte Jugendliche«. Hier wird Paul Schäfer stellvertretender Heimleiter. Nebenher hält er Kontakt mit seinen Anhängern und versucht neue Schäfchen hinzuzugewinnen. Er schaut sich konkurrierende Prediger an und sucht Verbündete.
»Wenn wir uns getroffen haben«, erinnert sich Ida, »dann war Wärme da und Geborgenheit. Gerade weil man vorher so auseinandergerissen war.« Und mit der Erinnerung kommen die Tränen. Auch heute noch. Dieses Bedürfnis, diesen Mangel spüren die meisten Flüchtlinge. Paul Schäfer weiß das zu nutzen. Schon früh versorgt er seine entstehende Gemeinde mit Rundschreiben, Aufgaben, Aktivitäten und mit Forderungen.
Liebe Freunde der Wahrheit 36 ,
schreibt er am 10. Juli 1954 in seinem Rundbrief Nr. 4 und fährt fort:
Es ist hohe Zeit für das Sommertreffen Anfang September zu rüsten und die Urlaubs und Ferienzeit darauf einzurichten, Wir werden in diesem Jahre in der Nähe von Braunschweig für 8 Tage zusammensein, Voraussichtlich werden die jüngeren Geschwister in Zelten und die älteren anderweitig untergebracht sein. Liebe Freunde kommt und sehet wie der Herr ist, was tut, an Dir und seinem Volk. Es treibt mich in diesem Augenblick Euch zu schreiben: Macht es um jeden Preis möglich zu kommen. Prüfet den Herrn und das was ich schreibe. Der Herr hat noch nie enttäuscht.– Es geht bei unserem Zusammensein um Ewigkeitszubereitung. So w ahr der Herr ist, Er wird uns in dieser Zeit eine neue Salbung geben. Ich bitte bitte besonders die Geschwister welche längere Zeit nicht im Allerheiligsten sein können zu kommen. Gedenkt der Ewigkeit, gedenkt der Flecken und Runzeln, gedenkt aber auch des Wortes:
Wer da glaubt wie Schrift sagt,
Von des Leibes werden Ströme
Des lebendigen Wassers fließen.
Und die Ströme werden fließen.
Da sind sie also wieder, die Ströme.
Dann folgt die Bitte, persönliche Veränderungen zu beschreiben, die durch den segensreichen Einfluss Paul Schäfers eingetreten sind. Vorher-Nachher-Beschreibungen der Seele sind gewünscht. Aber nicht auf Karten, sondern im Brief solle man schreiben. Schäfer schließt mit den Worten: Für heute liebe Grüße EUER . Die Unterschrift fehlt. Noch eine Aufforderung folgt: Lest auch bitte 2. Johannes 12 . Gemeint ist der 2. Brief des Johannes, Vers 12. Er lautet:
Ich hätte euch viel zu schreiben, aber ich wollte es nicht mit Brief und Tinte tun, sondern ich hoffe, zu euch zu kommen und mündlich mit euch zu reden, damit unsre Freude vollkommen sei.
Diese Bibelworte lesen sich schön und berührend. Doch Paul Schäfer schreibt sie nicht aus, sondern gibt nur die Quellenangabe. Verschwiegen. Verschworen. Geheimnisvoll. So recht geeignet, um die Fantasien von Jugendlichen zu fesseln: Mitglied eines
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