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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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allen zu wecken und stets lebendig zu halten. Diese Schuld wird immer wieder bei ihm persönlich gebeichtet. »Herr Jesus, ich danke dir, dass du mich annimmst in meiner Unvollkommenheit. Ich danke dir, dass du mich von meinen Zweifeln befreit hast.«
    Im sogenannten freien, offenen Gebet, das Schäfer einführt, bekennen alle laut ihre Gedanken und Gefühle und breiten sie vor den anderen aus. Das, so sagt Schäfer, habe eine reinigende Wirkung. Auch an diesem Abend zieht sich das Ritual in die Länge, Schäfer entdeckt immer noch etwas, was nicht in Ordnung ist: nicht aufrichtig genug gebetet, nicht alles gebeichtet. Ida und Gertrud, müde von dem langen Arbeitstag und der Radtour, nicken in dem stickigen kleinen Schlafzimmer mit Doppelbett, Nachtschränkchen und Kleiderschrank in der eigenartigen klaustrophobischen und aufgeheizten Atmosphäre allmählich ein.
    Hin und wieder kommt Ida zu sich, erlauscht Gesprächsfetzen, die sie eher als ein Ringen empfindet, denn als Beten, und schreckt hoch, als der Familienvater laut wird und empört sagt: »Wir ringen hier mit Gott, und die beiden schlafen!«
    Doch Schäfer, ungewöhnlich nachsichtig, winkt ab. »Sie sind müde, lassen wir sie ruhig schlafen.« Vielleicht ist es ihm diesmal ganz recht, dass er keine wachen Zeugen hat: Es geht um Sexualität – damals »Eheleben« genannt. Die Böcklers sind in zweiter Ehe verheiratet, und Schäfer will sie davon überzeugen, dass sie nach göttlichem Gebot keine Sexualität haben dürfen. Warum ist ihm das wichtig?
    Als Ida wieder einmal aufschreckt, hört sie, wie Schäfer dasEhepaar nach dessen Bekannten ausfragt: »Wer gehört denn noch so zu eurer Gemeinschaft?« Witwen und Geschäftsinhaber sind besonders interessant. Da ist doch die Frau Werner in Gerstetten. Eine Witwe. Sie besitzt ein Geschäft und Immobilien. Was für eine interessante Frau.
    Zufrieden radelt man nachts wieder zurück nach Heidenheim. Nun ist Ida wirklich müde, und sie wundert sich, wie munter und fröhlich dagegen Schäfer ist. Regelrecht »high«. Es war eben ein fruchtbarer Abend. Für ihn.
    Für die Böcklers wohl eher nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass die stundenlange Gebetsorgie zu dritt im eigenen Schlafzimmer der Entfaltung einer entspannten, lustvollen Sexualität des Ehepaars kaum förderlich sein würde.
    Ida ist beliebt, man mag sie. Im Juni 1953 wird sie von der Heimköchin eingeladen, eine Woche Urlaub bei deren Eltern auf einem Bauernhof im Schwarzwald zu machen. Sie freut sich, wieder etwas Neues kennenzulernen. Sie packt und bittet Schäfer, sie mit ihrem Koffer zum Bahnhof zu bringen. Doch der will nicht, dass sie fährt. Er redet auf sie ein, bedrängt sie. Statt Urlaub zu machen, soll sie ihn per Anhalter nach Groß Schwülper zu neuen Gemeindemitgliedern begleiten. Diesmal weigert Ida sich rundweg. Sie ist jung, sie will etwas erleben, und sie fährt zu ihrem geplanten Urlaub in den Schwarzwald. Dort hilft sie bei der Ernte, macht Radtouren mit der Schwester der Heimköchin, gemeinsam kaufen sie Stoff für eine silberne Hochzeit, dann geht es ins Konzert nach Freudenstadt, um die Schwarzmeer-Kosaken zu hören. Das ist das Leben, das Ida führen möchte. Sie will lernen, sie will Freude, sie will sich weiterentwickeln. Viele Möglichkeiten gibt es nicht, daher ist ihr dieser Urlaub sehr wichtig.
Erwischt werden
    Bei ihrer Rückkehr erfährt sie, dass einige Zöglinge aus dem Heim geflohen sind, aber schon wieder eingesammelt wurden. Der Weg in ein Fürsorgeheim ist in den Fünfzigerjahren nicht kompliziert, und es geht ziemlich schnell. Der Weg hinaus jedoch lang und mühsam – wenn es überhaupt gelingt. Die meisten Kinder oder Jugendlichen dort sind keine Waisen, sie haben Eltern. Idas Beobachtung, wer ein bisschen über die Stränge schlägt, landet schnell in einem Fürsorgeheim, trifft zu. Ida arbeitet nicht im Fürsorgeheim, sondern im Wohnheim für Jugendliche. Hier wohnen Lehrlinge aus der Heidenheimer Schwerindustrie. Aber natürlich erfährt sie auch, was nebenan vor sich geht. Schäfer ist einer von zwei Erziehern. Als die geflohenen Jugendlichen wieder eingefangen und zurückgebracht sind, wird allen – auch den anderen – der Sonntagsausgang gestrichen. Ein beliebtes Bestrafungsmuster in geschlossenen Systemen. Die kalkulierten Folgen sind bekannt: Die Flüchtigen werden von den Unbeteiligten krankenhausreif geschlagen. Eine Solidarisierung gibt es nicht. Die Erzieher machen sich die Hände nicht schmutzig.

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