Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Rausschmiss
An einem Tag im August 1953 bereitet Ida wie gewöhnlich den Speisesaal für das Mittagessen vor. Es ist halb zehn am Morgen. Plötzlich steht Paul Schäfer vor ihr und sagt: »Jetzt ist eingetreten, was ich euch prophezeit habe. Man hat mich fristlos entlassen. Es ist klar, dass ihr mit mir kommt. Ich habe euch hierhergebracht, und ihr geht mit mir fort.«
Selbstverständlich tun sie das. Schäfer hat sie systematisch präpariert. Jeder wahre Christ werde verfolgt, das hat er immer wieder gesagt und Beispiele angeführt. Er könne einfach besser predigen als andere, und das mache viele neidisch. Man beobachte ihn, das sagt er auch.
Ida möchte Heidenheim nicht verlassen, sie ist glücklich dort, sie liebt die Natur, die fröhlichen jungen Leute. Es gibt einen Sportplatz, auf dem sie Völkerball spielen, und abends machen sie einen Dauerlauf um das Heim. Einige von den Heimbewohnern laufen dann immer mit. Es gibt dort so viel Spaß, so viel Lebensfreude. Aber sie weiß, dass sie mit Schäfer gehen muss, wenn man ihn entlässt.
Nachdem Schäfer den Schwestern seine Entlassung mitgeteilt hat, lässt Direktor Kuno Beck die beiden sofort zu einem Gespräch holen. Er erklärt ihnen: »Ich habe mich von Herrn Schäfer trennen müssen, weil er für das Haus nicht tragbar ist.« Ida und Gertrud sind sprachlos. Beck fügt hinzu: »Ich nehme an, dass Sie auch gehen wollen.«
Ja, sagen die Schwestern, dann gehen wir auch.
»Das habe ich mir gedacht«, sagt Beck. Dann redet er zwei Stunden lang auf die Mädchen ein, beharrt darauf, dass dieser Mann schlecht sei. »Sie sind für ihn nur Tarnung«, sagt er, »er benutzt Sie nur.«
Doch Ida und Gertrud fühlen sich nicht benutzt. Sie verstehen überhaupt nicht, was Direktor Beck ihnen sagen will.
Ida bemüht sich um Klarheit. »Wie benutzt er uns denn?«
Doch Becks Antwort hilft ihr nicht weiter. »Sie sind so edel, Siesind so rein, Sie sind so wertvoll. Sie haben so klare, offene Augen. Sie sind zu schade, mit diesem Mann zu gehen. Sie kennen das nicht, auch wenn ich Ihnen das sage. Sie kennen es nicht.«
In Ida keimt ein Verdacht. »Glauben Sie, dass wir was Intimes mit Herrn Schäfer haben?«, fragt sie mutig. So weit wagt sie sich vor.
»Nein, das haben Sie nicht, das weiß ich.«
Beck bringt die Wahrheit nicht über die Lippen. Schäfer war wieder bei sexuellen Übergriffen auf Jungen erwischt worden. Doch das kann Beck den Mädchen nicht sagen. Er kann es nicht aussprechen. Er will die beiden schützen, aber er wählt den falschen Weg: Er schützt sie vor den Wörtern . Doch sein Schweigen schützt nur den Täter. Aber dies sind die Fünfzigerjahre, Beck weiß es nicht besser.
Dann versucht er eine andere Strategie, um Ida und Gertrud zu schützen. Er weiß, dass die Schwestern beruflich etwas aus sich machen wollen. Er schätzt sie, das sagt er ihnen. Er bittet die beiden, zu bleiben, er wolle auch für ihre Ausbildung aufkommen. Und nochmals: »Bitte glauben Sie mir, dieser Mensch ist es nicht wert, dass Sie mit ihm gehen.« Aber es nützt alles nichts. Sie kündigen. Im Zeugnis lobt Beck, was man nur loben kann, er dankt Ida »aufrichtig für ihre zuverlässige Mitarbeit« und wünscht ihr »von Herzen alles Gute für ihren weiteren Weg«. Wenige Tage später sind sie fort.
Angezeigt wird Schäfer auch diesmal nicht.
Nicht nur Ida und Gertrud lassen sich blenden. Auch der Familie Böckler erzählt Schäfer von der ungerechten, grundlosen Entlassung. Man betet zusammen. Darauf verspürt Herr Böckler den dringenden Wunsch, mit dem Direktor zu sprechen. »Und du kommst mit, Paul, es geht nicht an, dass er so einen Gottesmann, so einen gottesfürchtigen Menschen entlässt.« Zusammen marschieren sie los, aber kurz vor dem Heim bleibt Schäfer plötzlich stehen und sagt: »Weißt du, was? Es ist besser, du gehst allein. Dann wird er dir die Wahrheit sagen. Wenn ich dabei bin, sagt er sie dir nicht.«
In seiner Empörung merkt Böckler nicht, wie Schäfer die Tatsachen verdreht. Ein raffinierter Schachzug: Aus juristischen Gründen darf Beck einem Dritten den wahren Grund für die Entlassung nicht mitteilen.
Und wie zu erwarten, verweigert Direktor Beck auf Böcklers Lobpreisung des »Gottesmannes« und auf die inständigen Bitten, die Kündigung rückgängig zu machen oder diese wenigstens zu erklären, die Auskunft. »Sie müssen das verstehen, Herr Böckler, ich kann Ihnen den Grund nicht mitteilen, ich darf das gar nicht.« Leider versäumt Beck
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