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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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Geheimbundes sein. Die wahren Christen im Untergrund. Wenn Schäfer unterschreibt, dann meist mit dem Namenskürzel P.S. – als wäre er selbst nur ein unbedeutendes Postskriptum. Und vergleicht sich doch damals schon mit Jesus.
    Zu dieser ersten großen Zeltfreizeit lädt Schäfer auch die Familie Baar ein. Der 29-jährige Baptistenprediger Hugo Baar hat gerade seine erste Pfarrstelle angetreten. Hugo und Waltraud Baar und ihre – bislang – vier Kinder, eine christliche Familie wie aus dem Bilderbuch mit sanfter, harmonischer Ausstrahlung, so schauen sie aus Ida Gatz’ Fotoalbum heraus. Drei Mädchen mit Schleife im Haar, ein, drei und vier Jahre alt. Das Jüngste, Helmut, ist erst drei Monate. Hugo Baar ist ein sehr emotionaler Mensch, der besonders gefühlvoll predigen kann. Seine Ausstrahlung zieht die Menschen an, seine Persönlichkeit weckt ihr Vertrauen. Er hat eine Wärme, die Paul Schäfer fehlt.
    Schäfer kann einschüchtern, er bietet einen intensiveren Glauben, verlangt totale Hingabe, schreit, gibt Prophetien von sich, das ganze dramatische Fach also. Hin und wieder versucht er sich auch an Wunderheilungen. Seine Anordnung »Ich befehle dir, erhebe dich!« allerdings hilft dem Querschnittsgelähmten nicht auf die Beine; nach Schäfer liegt der Misserfolg vermutlich daran, dass dieser vom Teufel besessen ist.
    Baar hingegen berührt das Herz der Menschen, er verkörpert christliche Liebe.
    »Den brauche ich«, sagt Schäfer zu Ida, »wenn ich den gegen mich habe, habe ich verloren, wenn ich ihn habe, hab ich gewonnen.« Und er macht sich auf die Jagd.
    Im Januar 1955 erteilt Schäfer Ida plötzlich Order, ihn nach Salzgitter zur Familie Baar zu begleiten. Aber sie will nicht, sie will zu ihren Eltern, es ist ihr erster Urlaubstag. Also weigert sie sich.
    »Nein!«, brüllt Schäfer sie da an. »Wer sind deine Eltern? Wer sind dein Vater und deine Mutter? Die den Willen Gottes tun!« Das ist ein Befehl, dem sich Ida nicht widersetzen kann. Sie kennt die Bibel: Die Jünger verließen ihre Eltern, um Jesus nachzufolgen.
    Man reist per Anhalter. Bei weiblicher Begleitung halten die – damals meist männlichen – Autofahrer bereitwilliger an. Und das ist auch schon Idas einzige Funktion auf dieser Reise. Kurz vor der Ankunft schärft Schäfer ihr ein: »Sollten die fragen, wiewir hierhergekommen sind, dann sagst du natürlich ›mit dem Zug‹.«
    Du sollst nicht lügen.
    Angekündigt hat Schäfer sich auch hier nicht. Man fährt einfach hin. Die Baars sind höfliche Leute, freundlich nehmen sie ihre Gäste auf. Ida wird bei der Oma und den vier Kindern im Kinderzimmer untergebracht und genießt die stille Harmonie in dieser Familie. Idas eigener Vater ist jähzornig, ein ständig wütender Mann. Vielleicht erklärt das auch, warum Ida sich einem brüllenden Schäfer nur schwer widersetzen kann.
    Schäfer und Baar bleiben tagelang hinter verschlossenen Türen allein im Wohnzimmer, das auch das Schlafzimmer der Familie ist. Ohne Essen, ohne Schlaf, ohne Kontakt zur Familie. »Die sind noch nicht durch«, wird geflüstert. Womit nur? Gebetet und gerungen wird. Um was nur?
    »Schäfer hat Baar in Hörigkeit gebracht«, so Ida Gatz’ Kommentar im Rückblick. Doch Ida hat auch eine sachlichere Version: »Er verunsichert ihn in seinem Glauben. Er tritt so prophetisch auf. Als sei er direkt von Gott gesandt.« Und er bringt Baar dazu, das auch zu glauben.
    Menschen in Hörigkeit bringen – wie geht das? Essensentzug und Schlafmangel sind beliebte Strategien, um Menschen zu »brechen«, bestätigt Ian Haworth vom Britischen Cult Information Center. »Das kann schon in drei oder vier Tagen gelingen.« 37 Haworth, selbst ein Sektenaussteiger, der seit über dreißig Jahren andere Betroffene berät, wurde von der BBC anlässlich der Verurteilung eines satanistischen Kults im März 2011 in Wales interviewt. »Besonders bei Menschen mit sehr klarem Verstand scheint das zu wirken«, fügt er an. Immer wieder gibt es solche Meldungen, meist nur regional verbreitet. Man fragt sich, ob die Widerstandskraft gegen destruktive Kulte und ihre Führer heute größer ist als vor fünfzig Jahren.
    Haworths Hinweis auf »Menschen mit sehr klarem Verstand« und deren Anfälligkeit für destruktive Strategien ist wichtig. Um Schäfers Erfolge als Menschenfänger zu erklären, wird gern darauf verwiesen, dass die meisten seiner Opfer Flüchtlinge aus Osteuropa mit niedrigem Bildungsstand waren. Ein Klischee, das so nicht

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