Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
ist ein ungeübter Sänger und muss Spott einstecken. Tapfer steht er da in kurzer Lederhose, mager, mit rotem Haarschopf und überragt die anderen Jungs in seinem Alter. Zusammen üben sie laut und zackig Chorgesang. Den Mund weit auf und immer lächeln.
Gudrun schläft im Jugendheim, dort arbeitet sie in der Waschküche, aber hauptsächlich im Geschäft und im Haushalt von Alfred Schaak. Zur Berufsschule geht sie auch. Gemeldet ist sie in einem Haus in der Mühlenstraße. Das kriegt Wolfgang durch Zufall raus. Eine Schulkameradin sieht Gudrun morgens aus dem Eingangstor kommen und fragt erstaunt: »Du wohnst ja auch in diesem komischen Jugendheim?« – »Nein, nein«, antwortet Gudrun und wird rot, »ich hab hier nur was abgegeben. Ich wohn in der Mühlenstraße, das weißt du doch.« Wo sie wirklich wohnt, das soll sie niemandem sagen. Warum sie das nicht soll, hat ihr keiner verraten. Nur: »Na, denk mal darüber nach.« Langsam gewöhnt sie es sich ab, nachzufragen.
Die Mädchen gehen zusammen weiter. Und Wolfgang hinter dem Zaun weiß wieder ein bisschen mehr. Manchmal kommt er an dem Laden vorbei, in dem Gudrun arbeitet, doch hineinzugehen traut er sich nicht.
Aber die Welt des Paul Schäfer lernt Wolfgang nun von innen kennen. Manchmal darf er über Nacht in Schäfers Zimmer kommen. Manchmal erlebt er das als Privileg. Manchmal nicht. Manchmal ist er allein bei Schäfer, manchmal mit einer Gruppe Jungen.
Am Samstagabend, wenn es draußen kalt ist, lässt Schäfer die Jungs reinkommen zu sich. Jeder muss sich in einem Abstand von einem halben Meter zum anderen aufstellen. Den Oberkörper müssen sie freimachen und die Augen schließen. Dann die Unterhose ausziehen. Dann beginnt die Selektion. Sie spüren, wie Schäfer von einem zum anderen geht und sie betastet. Dann dürfen sie die Hose wieder anziehen und die Augen aufmachen.
Nun zeigt Schäfer auf einzelne Jungen, sagt: »Du bleibst hier, und du bleibst hier.« Die Kinder, auserwählt und doch erniedrigt vor den anderen, müssen zu ihm ins Bett. Sie spüren, wie Schäfers Hände mal zum einen, mal zu anderen wandern. Die anderen, nicht für gut genug befunden und abgelehnt, sind erniedrigt und doch erleichtert.
Was denkt ein Dreizehnjähriger dann? Wolfgang denkt: »So ist das Leben.« Neben der Demütigung, dem Schmerz fühlen dieJungen irgendwann auch Erleichterung. »Wenn man mit dreizehn, vierzehn in die Pubertät kommt«, so Wolfgang, »merkt man Erleichterung und Genugtuung.« Gegensätzliche, verwirrende, verstörende Gefühle. Manchmal genügt ein Leben nicht, um sie aufzulösen.
Gleich der erste Abend führt die Neuen in Schäfers Bett. Es trifft jeden.
Duschen
Und dann die Duschen.
Die Dusche ist ein Raum mit erhöhtem Sicherheitsbedürfnis. Der Mensch ist nackt, hat nichts zur Verteidigung als seine Hände.
Spätestens seit den Aussagen über pädosexuelle Übergriffe in der Odenwald-Schule wissen wir, dass viele Täter mit Vorliebe diesen ungeschützten intimen Bereich besetzen. Für skrupellose Erwachsene ist es leicht, Überlegenheit und Macht auszuspielen: »Hast du dich auch ordentlich gewaschen? Bei Jungen in deinem Alter muss man darauf achten, dass sie keine Phimose haben. Zeig mal her.« Wer weiß, welche Fantasien sich da bei den Tätern mischen, angefangen von eigenen Kindheitserlebnissen über Duschräume in Konzentrationslagern bis zu Hitchcocks »Psycho«?
Bei Schäfer ist es genauso.
Er wäscht die Jungen. Sie müssen mit ihm duschen. Der Beginn ist ritualisiert – welche Hand wann wohin. Dann onaniert er an ihnen und masturbiert sie bis zum beiderseitigen Samenerguss. Wie andere Vergewaltiger auch benutzt er jede Körperöffnung des Kindes.
Schäfer kann sich greifen, wen er will und wann er will. Zwischen den Jungen jedoch ist Nähe und Intimität verboten. Zwar gibt es Dreier-, Vierer- und Sechserzimmer mit Etagenbetten, aber voreinander ausziehen dürfen sie sich nicht. Abends bleibt die Unterhose an, die Schlafanzughose kommt darüber. Morgens gehensie zu dritt zum Waschen – nie zu zweit. Den Waschraum betritt man einzeln. Kommt einer raus, geht der Nächste rein.
Wolfgang weiß den Grund: »Damit wir uns nicht gegenseitig anschauen. Damit wir uns überhaupt nicht sehen und nicht reden. Wir sollten nur Schäfer sehen und nur mit Schäfer reden.« Aber sie reden auch untereinander. Mit manchen. Mit anderen nicht. Sie beobachten, wer sofort petzen geht. Wenn die auftauchen, wird alles stumm. Manchmal gelingt
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