Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
weggeben? Das könnt ihr dem Jungen doch nicht antun«, hört Wolfgang seinen Großvater sagen, und er klingt sehr aufgebracht dabei. Leise schließt Wolfgang die Haustür. Es ist Abend, und er kommt gerade vom Bolzplatz zurück. Ungewöhnlich warm ist es in diesem März 1959, man kann lange draußen spielen. Der Zwölfjährige bleibt hinter der Wohnungstür stehen und lauscht, denn er begreift: Hier geht es um seine Zukunft. Zornig sagt der Großvater: »Der Junge hat das schwer genug mit seinem Stottern.«
»Wolfgang ist schwer erziehbar und braucht eine feste Hand«, sagt die Mutter, »und die kriegt er bei Paul Schäfer.«
Hinter der Tür hört der Enkel, wie sie streiten. Da weiß er, dass es ernst wird mit seinem Umzug nach Siegburg. Die wollen mich loswerden, denkt Wolfgang. Vielleicht hat er recht. Er würde gern in Lutter bleiben, würde gern eine Malerlehre machen. Er liebt Farben; wenn Häuser gestrichen werden, bleibt er stehen und schaut zu. Bei einem alten Malermeister beobachtet er, wie der das Holz einritzt, damit die Farbe einsickert und alles haltbarer wird. So etwas zu lernen macht ihm Spaß. Zu Schäfer will er nicht. Abermehr als sein Erschrecken zeigen kann er nicht. Sein Großvater kann mehr; dem ist es gar nicht recht, dass der Enkel fort soll, und er sagt es auch. Wolfgang ist sein Liebling, für ihn riskiert er sogar Krach mit Wolfgangs Mutter.
»Schwer erziehbar? Dummes Zeug!«, sagt der Großvater zu seiner Schwiegertochter. »Das hat der Kerl dir eingeredet. Wolfgang ist ein braver Junge. Ihr wollt ihn nur loswerden. Ein Esser weniger und ein Zimmer mehr.«
Der Streit wird lauter.
»Schreit nicht so, der Junge hört ja alles«, sagt der Vater, der bemerkt hat, dass sein Sohn zurückgekommen ist.
»Man hört ja nicht nur Gutes über diesen Schäfer«, sagt der Großvater. Vorsichtig sagt er es, denn seine Schwiegertochter wird bei Kritik an dem ungelernten Prediger schnell wütend, und ihre Stimme bekommt einen schrillen Ton.
»Altmännergewäsch«, sagt sie, dreht den großen Knopf am Radio und drückt die UKW -Taste herunter, um das Gespräch zu beenden.
»Ich sage dir Adieu, es war wunderschön«, singt zu Herzen gehend Lys Assia im NDR , »tut es auch so weh, dich niemals …«, aber da hat die Mutter schon wieder abgeschaltet.
»Man hört ja so einiges über seinen Umgang mit den Jungen«, sagt der Großvater.
»Schämst du dich nicht! So ein heiliger Mann, so etwas darfst du nicht mal denken«, schimpft die Mutter.
Und dann ist Ruhe.
»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«, sagt fast zur selben Zeit im Plenarsaal des Deutschen Bundesrats die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden. Der gute Gott von Manhattan heißt das Hörspiel über die Liebe und über einen Gott, für den die grenzüberschreitende Liebe zweier Menschen schlimmer ist als Ketzerei.
So sitzen Wolfgang und sein Vater Ostern 1959 wieder nebeneinander im VW Käfer und fahren nach Siegburg. Mein Opa, denkt Wolfgang, der Wolfgang, der Wolfgang, hat er immer gesagt. Ich bin sein Liebling. Und tröstet sich mit der Liebe des Großvaters ein wenig über den Verrat der Eltern hinweg.
Der Vater öffnet die Pforte zur Baracke in Schäfers Reich. Kein Spruch am Eingang kündet von kommenden Schrecken, und Wolfgang kennt Dantes Göttliche Komödie nicht, aber die Inschrift auf dem Tor zu Dantes Hölle könnte auch seine Gefühle wiedergeben:
Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren. 47
Wolfgangs Vater verabschiedet sich, setzt sich wieder in seinen Wagen und fährt nach Hause. Seinen Sohn lässt er zurück.
Und die Verantwortung auch.
Ab Karfreitag 1959 bleibt Wolfgang im sogenannten Jugendheim Siegburg-Heide. Den ersten Tag wird er nie vergessen. Vorne auf der Bühne im Versammlungsraum steht Schäfer und brüllt: »Heute ist Freitag. Karfreitag. Tut Buße! Tut Buße. Es wird keine Buße getan, ihr Sünder!« Jeder soll seine Sünden aufschreiben, ordnet er an, und den Zettel in einen Kasten werfen.
All das ist beunruhigend und beängstigend. Aber Wolfgang sieht auch Gudrun wieder. Da ist sie, die Kleine, Feine. Wieder steht sie auf der Bühne, diesmal ist sie schon größer, aber immer noch so zart. Er hört sie singen und mit ihrer Schwester Hilde zusammen Mandoline spielen. Sie bläst auch Trompete und Flügelhorn. Sie anzusprechen traut er sich nicht. Im großen Chor steht sie zwei Reihen hinter ihm. Wolfgang
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