Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
üppigen Polstermöbeln, Raffgardinen, Vorhängen, Teppichen und gemauertem offenem Kamin. Eine hübsche Blondine im roten Pullover plaudert mit zwei jungen Männern. Die junge Frau lacht, der junge Mann braust scherzhaft auf und wirft eine Zeitung, in der er las, auf den Tisch.
Die jungen Menschen im Film, der in Deutschland aufgenommen, aber erst später in Chile professionell geschnitten, mit Musik und durchgereimtem Text unterlegt wird, wirken zufrieden und glücklich. Obwohl alles an dieser Szene falsch ist.
Auch in einer der nächsten Szenen. Im Waschraum.
Vergnügte Jungs waschen sich im grün gekachelten Badezimmer, vier weiße Waschbecken links, zwei rechts, kleine Spiegel darüber, in denen die Großen ihr Gesicht sehen können, die Kleinen noch nicht. Wieder treiben die Kinder Schabernack, bespritzen sich mit Wasser, albern herum, waschen sich und trocknen sich ab. Auch Wolfgang ist dabei, ein magerer, hoch aufgeschossener Junge, ein Kind, aber fast der Größte hier. Er ist hübsch, gelenkig, seine Bewegungen sind schnell. Und immer wieder dieser dichte rote Haarschopf, man kann ihn nicht übersehen.
Doch die Jungen, sonst immer kurzbehost, tragen im Badezimmer eine lange Hose; der Oberkörper ist zwar nackt, doch sie waschen sich nur die Unterarme, immer wieder das Gesicht und ganz gründlich die Ohren, auch dahinter. Es fehlt nur noch die Stimme: Hast du dich auch hinter den Ohren gewaschen?
Zwanzig Sekunden Filmmaterial, in denen man meint, den Blick Paul Schäfers zu spüren: nichts, was ihn erregt, dürfen die Jungen an sich selbst berühren.
Danach geht es ins Schlafzimmer der Kleinen. Drei Etagenbetten, sechs Jungen haben hier Platz. Und da kommen sie auch schon gelaufen im Schlafanzug und klettern in die Betten. Der Erzähler kommentiert:
Zu Bett, zu Bett, wer müde ist,
auch wer’s nicht ist, soll gehen.
Der kleine Pitt kriecht schnell ins Nest.
Der Schuhcreme bleibt noch steh’n.
Pitt ist fünf Jahre alt, und wie der achtjährige Werner zu dem Namen Schuhcreme kam, ist unbekannt.
Alle zwei Wochen kommen Wolfgangs Eltern zu Besuch. Die Mutter ist sehr beeindruckt von dem Wohlstand, in dem ihr Wolfgang nun leben darf. So hätte sie es auch gern: Durch eine hohe doppelflügelige Eichentür mit Glaskassetten und Oberlicht betritt sie die geflieste Eingangshalle. Links Gummibäume, rechts ein großer offener Kamin, daneben ein riesiger Gong.
Durch das großzügige Treppenhaus mit elegant geschwungenem Geländer, üppiger Wandbeleuchtung und vielen Pflanzen geht es in den ersten Stock. Zur Straße hin ein ordentlicher Vorgarten mit gemauerter Einfassung, nach hinten hinaus ein sorgfältig angelegter Park, mit Rasen, Rabatten, Beleuchtung, gepflasterten Wegen, Nebengebäuden und einem großen Swimmingpool mit Rutsche.
Ein Traum von Luxus in den frühen Sechzigerjahren. Unerreichbar für die meisten der Familien hier, die mithalfen, ihn zu erschaffen. Wolfgang Mutter nimmt es fast den Atem.
Ein einziges Mal bringen die Eltern Wolfgangs Cousins mit. Der eine schläft mit in Wolfgangs Bett. Der andere im großen Zimmer. Bei Paul Schäfer.
Am nächsten Morgen kommt der Cousin aufgeregt zu Wolfgang: »Du, der hat mich betatscht.«
Wolfgang erschrickt fürchterlich und bremst seinen Cousin sofort: »Halt bloß die Schnauze, sag nichts davon.« In den vergangenen Wochen hat Wolfgang gelernt, dass es Schläge gibt, »wahnsinnige Schläge«, wenn man über das spricht, was Schäfer mit einem macht. Die anderen Jungen wissen das auch. Alle wissen es, denn alle haben es erlebt. Einer hat darüber gesprochen, der bekam Schläge, sodass er vierzehn Tage im Krankenzimmer lag.
Sie alle müssen mithelfen, dass das nie wieder vorkommt. »Es soll nie wieder vorkommen, dass darüber gesprochen wird«, sagt Wolfgang, »es kann aber vorkommen, dass es passiert.«
Eindrucksvolle Sätze: Es soll nicht vorkommen, dass darüber gesprochen wird – Es kann vorkommen, dass es passiert. Das Sprachtabu, das die Täter schützt, ist mächtiger als das Gewalttabu, das die Kinder davor schützen soll, Opfer zu werden.
Unter Schäfers Herrschaft ist es tabu, sich in ein Mädchen zu verlieben, wenn man ein Junge ist. Sich in einen Jungen zu verlieben, wenn man ein Mädchen ist. Auch in der Ehe hat Sex keinen Platz, wenn man Schäfer Glauben schenkt, und der weiß dies biblisch zu belegen. Ein weiteres Tabu unter der Herrschaft von Paul Schäfer ist es, über Sexualität zu reden. Fortpflanzung kommt bei Tieren
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