Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
vor, aber auch diese Kenntnis ist ein geheimes Privileg, Jungen können von Glück sagen, wenn ein Erwachsener, Gerhard Mücke – der Mauk – etwa, ihnen zeigt, wie ein Stier eine Kuh besamt. Daraus entwickeln die Kinder Fantasien über menschliche Sexualität, und aus Unkenntnis benutzen sie dieselben Wörter, wenn sie insgeheim darüber sprechen.
Unterdrückung schafft Überdruck. Eines Tages ist Gudrun allein im Haus ihres Lehrherrn. Sie kocht das Mittagessen, an dem auch Alfred Matthusen teilnimmt. Die Familie ist fort. Nun kommt Alfreds Chance. Danach wird Gudruns Erinnerung lückenhaft. Sie weiß nicht, was geschah, sie weiß nur, dass Alfred Matthusen es wieder als Erster beichten will und gleich zu Schäfer eilt.
Auch sie muss zu Schäfer. Dieser verhört Gudrun über Stunden, bis sie überzeugt ist von ihrer Schuld. Daran wiederum erinnert sie sich genau. Er befragt sie bohrend und einschüchternd, bis er ein winziges Detail hervorgekramt hat, das als Einverständnis und Entlastung für den jungen Mann gedeutet werden kann. »Als er sagte, dreh dich rum, da hast du es getan. Das bist du schuld.«
Dann suggeriert er Gudrun so lange eine Schuld, bis sie vollkommen ausgefüllt ist davon.
Als wäre nichts geschehen
Nach einer Weile geht Gudrun wieder an die Arbeit, als wäre nichts geschehen. Als wäre ihr nichts geschehen. Sie hat auch gar nicht das Gefühl, ihr wäre etwas geschehen. Nur etwas Dumpfes, Vages bleibt. Dagegen hilft Arbeit. »Arbeit ist Gottesdienst«, sagt Paul Schäfer immer wieder.
Da kann sie Gott ja gleich beim Bauen dienen. Denn auch die Mädchen schaufeln Entwässerungsgräben, vier Meter tief im Sumpfgebiet. Auch davon weiß der Erzähler im Film zu berichten:
Schon damals gab’s Entwässerungsprobleme.
Paulsmeier sagte uns, man nehme
sich Hacke, Spaten und viel Kraft,
dass man die schwere Arbeit schafft.
Herrn Paulsmeier, nach Ida Gatz’ Worten ein sehr religiöser Mann aus dem Rauhen Haus in Hamburg, kennt Paul Schäfer von früher. Was dieses »früher« bedeutet, ist unbekannt. Paulsmeier ist Geologe und weiß, wie »man die schwere Arbeit schafft«.
Sie ziehen einen Zaun um das ganze Gelände. Auch diese Arbeit muss Gudrun abends und nachts machen nach ihrer Tätigkeit als Verkäuferin und im Haushalt. Manchmal bei Flutlicht. Schäfer steht dabei, die Hände in den Taschen, und befiehlt. Einmal fragt er: »Wer ist hier der Faulste?« Ein kleiner Junge zeigt auf Schäfer und sagt: »Du!«
Tröstliche Szenen, die in der Erinnerung haften bleiben. Immerhin ist dies eine Zeit, als Frauen und Männer noch zusammen arbeiten, zusammen essen und hin und wieder sogar zusammen feiern dürfen.
Tagsüber arbeitet Gudrun in einem der Lebensmittelläden von Alfred Schaak. Schaak ist Chemiker, im Krieg und kurz danach arbeitete er in der Rheinischen Zellwolle AG in Siegburg, die Kunstseide zur Produktion von Fallschirmen produzierte. Dreitausend Zwangsarbeiter waren in diesem als kriegswichtig eingestuften Betrieb beschäftigt. Nachdem er Schäfer kennengelernt hatte, kündigte Schaak dort und eröffnete zuerst eine Drogerie, dann eine Reihe weiterer Geschäfte. Im Laufe weniger Jahre baut er so für Schäfer ein kleines Imperium an Geschäften in Siegburg und Umgebung auf. Eugen Böckler, Heinz Kuhn, Joseph Schmidtke und andere eröffnen weitere Läden: Obst und Gemüse, Backwaren, Elektrowaren und ein Lagerhaus mit Kühlraum kommen hinzu. Da keine Personalkosten anfallen, rentiert sich das sehr schnell. Der Verein Private Sociale Mission e.V. ist gegründet, steuerlich begünstigt und sozial angesehen. Mit Schäfer als Treuhänder. Die Mission ist weder sozial, noch ist sie eine Mission, doch das weiß kein Außenstehender. Dafür ist sie sehr privat.
Ein Foto zeigt Gudrun als Verkäuferin vor einer Wand von Regalen, die prall gefüllt sind mit Lebensmitteln. Kolonialwarenladen sagte man damals. Konzentriert zählt sie einer Kundin das Wechselgeld vor. Auf dem Tresen stehen Gläser mit Gurken, zwei Milchflaschen mit Stannioldeckel, und ein Schild preist ein Sonderangebot für 98 Pfennig an.
Nach Feierabend macht sie Schularbeiten für die Berufsschule, denn ihre Lehre will sie unbedingt abschließen. Sie muss aber aufpassen, dass Schäfer sie nicht »erwischt«. Denn der hat stets andere Aufgaben parat. »Du hilfst jetzt erst mal mit, dann kannst du immer noch Schularbeiten machen.« Das bedeutet wenig Schlaf. Morgens muss sie sehr früh aufstehen, um mit dem Chef frische Ware
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