Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Buchstabendreher, statt Fuchs schreibt er Fusch . Zum Jubel von Schäfer. Nun ist Wolfgang der Fuscher. Und wird es lange bleiben. Immer wieder muss er das aufschreiben. Und niemand belehrt den belustigten Schäfer, der in der Grundschule zweimal sitzen geblieben war, dass sich Pfusch mit einem P vor dem F schreibt.
Die Spitznamen sind keine Kosenamen; fast immer sollen sie die Person des Trägers herabwürdigen oder lächerlich machen.
Nur wenige wissen, wie der Name »Fuscher« für Wolfgang entstand, aber sie übernehmen das Wort und die Wertung gleich mit. Auf ähnliche Weise kommen »Tatter«, »Dickback«, »Spinti«, »Bimbo«, »Dackel«, »Pudding«, »Hering«, »Jumbo« und viele andere zu ihrem Namen. Auch die Sprache ist in Schäfers vorpubertärer Welt stecken geblieben, bevölkert von Onkeln und Tanten, die sich an kindischen Reimen ergötzen.
Gudrun hingegen bekommt keinen Spitznamen, aber Schäfer redet sie auch nicht mit ihrem eigenen Namen an. Gudruns Name ist einfach nicht da. Wenn Schäfer etwas von ihr will, sagt er: »Du, komm mal her.« Ihre Schwester spricht er als »Wagner-Pest« an. Oder sagt ebenfalls nur: »Komm mal her.«
Einmal lässt er alle Spitznamen aufschreiben. Jeder muss aufstehen und sagen, warum er diesen Spitznamen hat. Zum Schluss kommt die Frage: »Wer hat keinen Spitznamen? Aufstehen!« Einige wenige stehen auf. Schäfer: »Schaut sie euch an. Mit denen stimmt es nicht.«
Die Hurengeister herausprügeln
Der nächste Abend.
Schäfer liegt auf dem oberen Stockbett in seinem Raum, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, die Augen geschlossen. Er scheint zu schlafen. Doch da die Versuchsanordnung von ihm stammt, ist davon auszugehen, dass er den Verlauf überwacht. Mit ihm im Zimmer fünf Jungen. Einzeln werden nun die Mädchen hereingerufen. Sie werden von den Jungen befragt. Verhört. Schließlich die Frage: »In wen bist du verliebt?«
Renate antwortet spontan: »Mir gefällt der Wolfgang.«
Was dann folgt, lässt den Atem stocken: Wolfgang muss dieses Mädchen schlagen. »Prügel die Hurengeister aus ihr heraus!«, schreit Schäfer. Wolfgang gibt ihr eine Ohrfeige. Er schämt sich zutiefst, entschuldigt sich später. Andere trifft es noch härter. Auf ihr Bekenntnis hin werden sie vom Gegenstand ihrer kindlichen Zuneigung grün und blau geprügelt.
Willi Georg, der im Zimmer der Jüngsten schläft, muss nachts einem Kleinen helfen, dessen Nase gebrochen ist. Er soll aus dem obersten Stockbett gefallen sein, heißt es. Als Willi Georg über den Flur geht, hört er, dass Paul Schäfer spät in der Nacht noch mit den älteren Jungen, den »Knappen«, zusammen ist; die Stimme des dreißigjährigen Hans-Jürgen Blank hört er auch. Sind wohl wieder am Teufel-Blamieren, denkt Willi Georg sich und geht weiter, um Verbandszeug für den Kleinen zu holen.
Gegen Ende der Nacht sagt Schäfer zur Gruppe in seinem Zimmer: »Schade, dass die Rita nicht hier ist.« Rita, die auf ihre Postkarte an Lilli geschrieben hatte: »Du hast es gut.« Wäre sie hier, dann würde er sie vom siebzehnjährigen Manfred Skraps zusammenschlagen lassen, für den sie so schwärmt.
Will Schäfer den Kindern die Heterosexualität austreiben?
Wolfgang denkt: Paul will uns zeigen, dass sie uns verführen.
Aber Wolfgang ist auch unsicher und fragt sich: Was tun sie denn schon? Noch nicht einmal das, was er und seine Spielgefährten in seiner Kindheit in Lutter ausprobiert haben, als er noch zu Hause lebte. Und das hat allen Spaß gemacht, und niemand hat geschimpft. Es hat sie aber auch niemand erwischt. Aber jetzt hat er keine Wahl, er muss gehorchen.
Am nächsten Morgen stehen Willi Georg und Paul Schäfer nebeneinander und schauen von der Jugendherberge aus über die bewaldete Landschaft. Willi Georg berichtet vom Sturz des Jungen und dem folgenden Arztbesuch. Weiter verlieren sie kein Wort über die Ereignisse der Nacht.
Plötzlich dreht sich Paul Schäfer zu Willi Georg und sagt: »Ich glaube, ich muss bald heiraten.«
»Es wird auch langsam Zeit«, erwidert Georg, der verheiratetist und zwei Kinder hat. Beide, den Sohn und die Tochter, hat Schäfer zu diesem Zeitpunkt schon misshandelt und sexuell missbraucht. Aber das vertrauen sie ihrem Vater erst an, als der sich von der Gruppe getrennt hat und der halbe Erdball zwischen ihnen und Paul Schäfer liegt.
Solange die Väter unter Schäfers Einfluss stehen, sind sie keine Väter, die Schutz bieten können. Alfred Schaak ist zu diesem Zeitpunkt
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