Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
wir in einer Höhle« – so etwa könnten sie dann nach Hause schreiben.
Aber nicht diese Kinder.
Spielen wir Fußball, schlägt einer vor. Lieber nicht, denken die anderen, Schäfer mag Fußball gar nicht. Und immer ist einer dabei, der petzt. Aber jetzt ist Schäfer in seinem Zimmer. Der ist beschäftigt. Fußball, das bedeutet natürlich, Wolfgang steht im Tor. Ein Ball fliegt aufs Tor, Wolfgang macht einen Hechtsprung und fängt ihn.
Abends folgt das übliche Verhör bei Schäfer: »Da waren sechs oder sieben Jungs, die haben beobachtet, dass du dich extra geworfen hast wegen den Mädchen, die hinter dem Tor standen.«
Panik!
»Ich hab die gar nicht gesehen!«
»Auch noch leugnen! Und vorher hast du die Hose hochgezogen, damit sie beim Sprung in die Hosenbeine gucken und das sehen konnten.«
Das.
»Nein«, sagt er, »das mit dem Fangen ist eintrainiert.« Er versucht zu kämpfen und weiß doch, dass es sinnlos ist. »Wenn ein Ball kommt, dann schmeiß ich mich. Ich hab die gar nicht gesehen!«
Wolfgang ist in der vorigen Woche dreizehn geworden. Unter Stress bekommt er einen leichten Sprachfehler, er stottert ein wenig. Seine Großmutter hat sich mal eine Weile darum zu kümmern versucht. Bis es wieder in den Hintergrund geriet. Dann ist das so geblieben: Je stärker der Stress, desto undeutlicher die Sprache. Schäfer mag gern kleine Schwächen bei anderen entdecken und sie zu voller Blüte bringen. Es tut ihm außerordentlich wohl, wenn sein Publikum dann herzhaft lacht.
Das weiß sein Publikum inzwischen und bedient Schäfers Bedürfnis.
»Wir haben genau gesehen, dass er das gemacht hat! Extra die Hosenbeine so hochgezogen und sich geschmissen, damit die reingucken konnten«, rufen die anderen.
Ach, es ist so erbärmlich und so menschlich auch.
»Schlagen!«, sagt Schäfer.
Und sieben Jungen fallen über Wolfgang her. Alle. Eigenartig, sie fallen über Wolfgang her, nicht über Schäfer. Dabei sind sie weit in der Überzahl. Acht gegen einen. Ein Gedanke, den sie nicht zulassen. Haben sie Angst, dass Gott zurückschlägt? Überhaupt nicht zu schlagen, das wäre Befehlsverweigerung und würde Schläge für den Verweigerer nach sich ziehen. Die Meute ist beliebig steuerbar. Sie kann sich plötzlich auch gegen einen von ihnen wenden.
»Dann habe ich erst mal den Arsch vollgekriegt«, beschreibt Wolfgang in kindlich beschönigenden Worten, was ihm geschah.
Danach folgt die Verhandlung: Hast du gelogen – Hast du nicht gelogen? Ein Folterverhör, das sich bis in die Morgenstunden hinzieht. Dann darf er gehen. Falls er noch gehen kann.
Er kann kaum kriechen. Und schlafen kann er auch nicht vor Schmerzen. Am nächsten Tag muss er im Bett bleiben, weiler blau geschlagen ist. Am Morgen kommt Maria Strebe und schmiert eine Salbe drauf, damit die Spuren schnell verschwinden. Maria Strebe ist immer dabei. Dreißig Jahre ist sie jetzt alt, Schäfer hat sie in Gartow aufgelesen, seither begleitet sie ihn, mit festem Schuhwerk, weißen Söckchen und weißem Häubchen, im Rotkreuzschwestern-Outfit – obwohl sie keine ist –, und macht, was er will. Bedingungslos. So sehen es alle.
Der übernächste Tag. Das Verhör wird fortgesetzt. »Du hast doch auch mit Marlies Kontakt gehabt.«
»Nein!«
»Sollen wir eine Gegenüberstellung machen?«
»Ja, könnt ihr.«
Auch Marlies verneint: »Nee, mit dem Rotfuchs hatte ich nichts zu tun.« Sie spielt auf Wolfgangs prachtvollen roten Haarschopf an.
Ihren Satz muss Wolfgang nun aufschreiben und dazu Stellung nehmen. »Mit dem Rotfuchs hatte ich nichts zu tun.« Dieses Verfahren kennen die Kinder. Hinterher wird nachgebessert nach Schäfers Gutdünken. Und solange es ihm Spaß macht.
»Das stimmt so nicht, das musst du anders schreiben!«
Diese Szenen erleben alle.
Dann schreibt man das eben so, wie er es will. Im Laufe der Zeit lernt man, es gleich so zu schreiben, wie Paul es haben will. Damit geht man allem aus dem Wege. Und irgendwann merkt man, dass es so leichter ist. Man braucht nicht einmal darüber nachzudenken, was man schreiben möchte. Man schreibt gleich, was Paul hören will. Dann braucht man den eigenen Willen gar nicht mehr. Der bringt sowieso nur Schwierigkeiten. Über den eigenen Willen schleicht sich der Teufel ein, sagt Paul. Und der muss dann wieder ausgetrieben werden. Besser, man gibt ihn gleich auf, den eigenen Willen.
Aber so weit kommen sie diesmal gar nicht, denn Wolfgang verschreibt sich gleich am Anfang, macht einen
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