Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Später bringt sie Mina dann wieder nach Graz. Wieder dieser eigentümliche Hol- und Bring-Dienst. Ein Schutz für Frauen, damit sie nicht allein reisen müssen? Ida jedoch muss zum Schluss allein zurück nach Siegburg trampen.
Was geschehen war und weshalb Mina in Tränen aufgelöst war, sollte noch lange Zeit ein Geheimnis bleiben.
Nur Bruchstücke sind in den Berichten Einzelner erhalten. Einmal müssen auch Willi Georg und Johannes Bechtloff nach Graz fahren. Mina erwartet, dass ihre Kinder zurückgebracht werden. Aber Schäfer hat es verboten. Als Mina den beiden die Tür öffnet und sieht, dass ihre Kinder nicht dabei sind, bricht sie weinend zusammen.
KAPITEL 7
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Den Bock zum Schäfer gemacht
1960
Gesellschaft: Über 20 000 Menschen bei Billy Grahams Zeltmission in Berlin; Schöner Wohnen erscheint.
Im Kino: Ben Hur; Das süße Leben (Anita Ekberg);
Der Schulfreund (Heinz Rühmann).
Schlager: Die Liebe ist ein seltsames Spiel (Connie Francis).
Politik: 4 000 Zonenflüchtlinge pro Woche.
Der Mossad entführt Adolf Eichmann aus Buenos Aires.
Spruch des Jahres: Neckermann macht’s möglich.
Bis 1960 wechselt Wolfgang nur wenige Worte mit Gudrun. Er ist vierzehn, sie neunzehn, er schaut sie an, lauscht ihrem Gesang. Seit einem Jahr wohnen beide in Schäfers Privat-Sekte, helfen mit, ihm seinen sicheren Ort aufzubauen; an einigen Freizeiten nehmen beide teil. Er sucht ihre Nähe. Auf den Fotos der Freizeiten, die Ida und Lilli geknipst haben, ist es deutlich zu erkennen: Die Kleine mit der hohen Stirn, im bunten Sommerrock mit weißer Bluse, direkt davor der Junge mit dem dichten roten Haarschopf, im Karohemd mit hochgekrempelten Ärmeln.
Wolfgang weiß nicht, warum er sich in sie verliebt hat. Als er nach Heide kommt, erkennt er sie sofort wieder. Einmal sagt er von Weitem: »Ich möchte mal mit dir sprechen.« Aber er sagt es ganz leise, wie zum Üben.
Mehr passiert nicht. Doch es gibt eine Verbindung von ihm zu ihr. Sie ist dünn, aber sie ist da.
Auch von einem Sonntagsspaziergang in der Kroppacher Schweiz im Westerwald werden Fotos gemacht, auf denen beide, Wolfgang und Gudrun, zu sehen sind. Eindrucksvolle Bilder, wenn man die unsichtbare Geschichte kennt. Sichtbar ist nureine Gruppe fröhlicher Menschen, wie sie in den Fünfzigerjahren bei Wandertagen eben aussahen. Jedes Bild eine Zeitreise. Die meisten Personen sind Kinder, Jungs in kurzer Stoff- oder Lederhose, Mädchen im Kleid und mit Kniestrümpfen, Zöpfe oder Kränze auf dem Kopf. Ein Foto wirkt besonders einnehmend, so fröhlich, der Bildaufbau ist gelungen, die Menschen sind entspannt und heiter. Links im Bild ein Mann, der Mundharmonika spielt. Das ist Paul Schäfer, rechts daneben, ihn überragend, Kurt Schnellenkamp. Das ist der frühere SS -Mann, der Gudrun Wagner einige Jahre später krankenhausreif schlagen wird. Im Hintergrund Gerhard Mücke, der das schon getan hat. Rechts Gudrun in ihrem Lieblingskleid, sie hat sich gerade abgewandt, aber an ihrem dicken Haarkranz kann man sie gut erkennen. In der Mitte drei Jungs wie die Orgelpfeifen, der größte wird später der bekannteste Aussteiger der Colonia Dignidad sein, Ernst-Wolfgang Kneese; aus der Mitte heraus strahlt Wolfgang Müller. Auf Schäfer liegen viele bewundernde, liebevolle Blicke. Was mögen die Menschen denken – Gott bläst Mundharmonika?
Berührend zu sehen ist ein kleiner Junge ganz am linken Bildrand hinter Paul Schäfer, er nimmt dieselbe Haltung wie dieser, hat die Haare zurückgekämmt wie er, die Kopfhaltung ist gleich. Er könnte Schäfers Sohn sein. Aber Schäfer hat keinen Sohn. Es ist einfach ein kleiner Junge, der sich an seinem großen Vorbild orientiert. An Paul Schäfer.
Man kann davon ausgehen, dass alle männlichen Personen auf diesem Bild von Paul Schäfer sexuell zumindest genötigt wurden – vielleicht abgesehen von Schnellenkamp. Wehren die Kinder sich dann, lässt Schäfer sie zusammenschlagen. Mit Vorwand oder ohne. Aber auf all dies gibt es in dem Bild keinerlei Hinweise.
Zwei Leben, die nebeneinander gelebt werden: das sichtbare und das unsichtbare. Vielleicht hält es Wolfgang aufrecht, dass er immer noch eine dritte Möglichkeit im Blick hat: Gudrun. Vielleicht ist sie der Ausweg?
Am 9. September 1960 besteht Ida Ritz ihr Examen. Sie ist nun staatlich geprüfte Hebamme. Zurück in Heide berichtet sie davon. Sie möchte gern, dass die anderen sich mit ihr freuen. Da ordnet Schäfer an: »Um sie von ihrem Hochmut zu befreien,
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