Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
fremdbestimmt; nicht Ida entscheidet, sondern jetzt entscheidet Schäfer, ob sie zum Zahnarzt gehen darf. Da geht ihr auf: Das ist ein Betrüger, der hat mich aufs Kreuz gelegt. Mein Geld ist weg, meine Arbeit habe ich in sein Projekt gesteckt, aber meinem Ziel, einen Beruf zu haben, bin ich keinen Schritt näher.
Und einen eigenständigen Beruf zu haben ist Idas sehnlichster Wunsch. Nicht nur Hausfrau sein. Sie denkt an die katastrophale Ehe ihrer Eltern, diesen zornigen Vater. Dann geht sie Schäfer unter vier Augen an, sie erpresst ihn, könnte man sagen.
Sie will eine Ausbildung, und sie weiß auch schon, was: Ida will Hebamme werden. Sie geht es strategisch an. Ihr fällt auf, dass Schäfer gezielt Leute, die er brauchen kann, ausbilden lässt. Eine Ärztin gehört inzwischen zum Team, Dr. Gerda Seewald, aber noch keine Hebamme. Als Eva Schaak, die Frau von Gudrun Wagners Chef, wieder schwanger ist, passiert es irgendwie, dass Eva Schaak sagt: »Es wäre gut, wenn wir eigene Hebammen hätten und nicht eine von draußen aus der Welt.« Kein Weltmensch, wie sie es nennen. Andere Gruppen sprechen von »Ungläubigen«.
Für sich sein, keinen Kontakt mit Außenstehenden, Ehe und Freundschaft mit Andersgläubigen schon gar nicht, kein Fremder darf reinriechen. Das sind Konzepte nicht nur aus Schäfers Repertoire. Auch die katholischen Bischöfe warnen 1959 vor »Gefahren einer Mischehe« zwischen Katholiken und Protestanten.
Unter uns bleiben – da kann Ida ansetzen.
Wiederholt bedrängt sie Schäfer unter vier Augen und besteht darauf, Hebamme für die Gemeinschaft zu werden. Das ist der erste Schritt. Dann wird sie aggressiv. »Was ist das eigentlich alles hier, wir wollten doch nur eine Bleibe schaffen? Ein Häuschen, wo wir uns treffen können. Ich vertue hier meine wertvollsten Jahre. Ich möchte einen Beruf lernen.«
Schäfer erstarrt, er kann nichts erwidern. Solchen Konfrontationen auf Augenhöhe zu zweit ist er nicht gewachsen. Ihr geht auf, dass man ihm nur die Stirn bieten muss, um sich selbst zu schützen.
Heute bedauert Ida Gatz, dass sie ihre Zweifel nicht öffentlich gemacht hat, und träumt davon, wie es gewesen wäre, Schäfer vor versammelter Gemeinde öffentlich bloßzustellen, so wie es das kleine Mädchen im Märchen »Des Kaisers neue Kleider« gemacht hat.
Eines Abends teilt Schäfer es als seine eigene Eingebung mit: »Ida Ritz und Ingrid Seelbach machen eine Hebammen-Ausbildung.« Scherzhaft fügt er an: »Damit sie uns nicht eines Tages vorwerfen, wir hätten sie nichts lernen lassen.«
Ida hat gesiegt. Doch bis sie frei ist, wird es noch dauern.
Hör auf mit Brilon!
In den Herbstferien 1959 verreist Schäfer mit den Jungen eine ganze Woche lang. Und diesmal nimmt er auch Mädchen mit. Gudrun nicht, die ist zu alt, sie muss arbeiten; aus Schäfers Sicht ist bei ihr ohnehin Hopfen und Malz verloren.
Die anderen fahren gemeinsam. Das gab es noch nie. Sonst nimmt Schäfer immer nur die Jungen mit. Zusammen kauern sie auf der Ladefläche, die Jungen auf der einen, die Mädchen auf der anderen Seite. Schauen sich verstohlen an. Vorsichtig. Alle hocken sie hier hinten. Bis auf die, die vorn im Führerstand bei Paul sitzen. Da sitzen immer welche.
Vielleicht denken sie, jetzt wird das Leben normal. Aufgeregtsind sie. Irgendetwas ist anders. Schon die Fahrt ist etwas Besonderes: Im Opel-Blitz-Lastwagen mit Plane sind die 25 Kinder und Jugendlichen auf dem Weg zur Jugendherberge in Brilon im Sauerland. Hier hat Schäfer seine Heimleiterausbildung gemacht, mit dem Herbergsvater ist er befreundet. Nur dreißig Kilometer entfernt liegt Heinrich Lübkes Geburtsort. Seit einem Monat ist Lübke Bundespräsident, Präsident der »kleinen Leute« will er sein. Aber davon wissen die Kinder nichts.
Das Haus mitten im Wald ist groß, einsam gelegen, romantisch. Hier könnte man wunderbar spielen. Eine alte Fichte überragt die dreistöckige Herberge, der vergangene Sommer war sehr trocken, viele Nadeln haben sich braun gefärbt. Fichten- und Buchenwälder, Tropfsteinhöhlen und Wasserfälle, Waldschwimmbad und Marmorsteinbruch, Bolzplatz und Tischtennis. Eine märchenhafte Umgebung, wo Kinder tagsüber draußen toben, abends – nach Hagebuttentee und Graubrot mit Wurst und Käse – am Feuer sitzen, spannende Geschichten hören und schließlich müde und zufrieden in tiefen Schlaf fallen könnten. »Liebe Mutti, lieber Papa, hier ist es sehr schön, ich habe schon geschwommen, und gestern waren
Weitere Kostenlose Bücher