Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
alle hingehen »wie zur Schlachtbank« und sich eintragen. »Ins Gelobte Land.« Nicht eine Minute erwägt sie, sich einzureihen.
Wegen des Haftbefehls gegen Schäfer kommen einige Länder nun nicht mehr infrage. So entscheidet man sich für Chile. Botschafter Arturo Maschke verschafft der Gruppe erste Kontakte.
Kurz darauf flüchtet Schäfer eilig nach Luxemburg, wo er ein halbes Jahr verbringt.
Im März/April 1961 fährt Hugo Baar plötzlich mit einer kleinen Gruppe Jungen nach Brüssel. Wolfgang ist auch dabei. Die Jungen haben keine Ahnung, dass Schäfer jetzt in Brüssel ist. Aber da steht er vor ihnen.
»Nun werdet ihr ein berühmtes Denkmal sehen«, sagt Schäfer. Der große Zampano, der die kleinen Jungen überrascht und in die Kultur der Stadt einführt: Er zeigt ihnen das Manneken Pis .
Auf der Rückfahrt, ohne Schäfer, stellen sie plötzlich fest, dass einer fehlt. »Wo ist denn der Gerd?«, fragt Wolfgang; die anderen schauen sich um. Tatsächlich, der Gerd aus Hamburg ist nicht mehr da. Auf der Hinfahrt war er dabei, auf der Rückfahrt ist er weg. »Ja, ja«, sagt Hugo Baar ruhig. Das soll bedeuten, es ist alles in Ordnung, und man fragt besser nicht weiter nach. Schäfer hat ihn wohl bei sich behalten. Wie bei den nächtlichen Selektionen: Du kommst mit.
Ein Heiligenschein für Paul
Eine hysterische Panikstimmung breitet sich aus im Heim in Siegburg. Paul Schäfer ist fort, und wer nicht mitgeht, geht verloren. Ja, willst du verloren gehen? Massiver Druck wird ausgeübt. Hast du endlich deine Ausreisepapiere? Ingrid Seelbach, die zusammenmit Ida die Hebammenausbildung gemacht hat, wird weggeholt, ohne dass sie sich verabschieden kann.
Ida besucht eine alte Frau im Krankenhaus, Schäfer zufolge eine der »weisen Frauen, der Sarahs im Alten Testament«. Ein Leben voller Arbeit hat sie hinter sich. Jetzt liegt sie im Bett, erschöpft nach einer Krebsoperation. Aber sie hat nur einen Gedanken. »Ida, glaubst du, dass ich das Gelobte Land noch sehen werde? Ida, ich habe um Paul den Heiligenschein gesehen. Und um Hugo auch.«
Und Ida denkt: Omi, was faselst du da? Ich hab noch nie einen Heiligenschein gesehen. Diese Gehirnwäsche! Was hast du für eine Vorstellung vom Gelobten Land? Für mich ist Deutschland das Gelobte Land, hier habe ich Chancen, die ich sonst nie gehabt hätte. Ein fantastischer Lehrer hier ließ mich zwei Klassen überspringen, ich habe einen Schulabschluss. Ich habe so viel Grund, dankbar zu sein.
Aber Idas Schwester Gertrud unterschreibt. Ida beginnt um sie zu kämpfen. »Für mich kommt Auswanderung nicht infrage, das will ich nicht, und das tue ich unseren Eltern nicht an. Sie haben ja schon so viel Leid erfahren. Ich will selbstbestimmt leben und nicht gegängelt werden.«
Mit vierzehn Jahren wird auch Wolfgang Müller entführt.
An einem Samstagabend im Juni sagt Hugo Baar zu ihm: »In einer Woche fährst du nach Lutter zu deinen Eltern. Da holen wir dich wieder ab, und dann fliegst du von Frankfurt nach Kopenhagen. Wir machen Ferien in Dänemark. Etwas länger.«
Die Kenntnis von Flugrouten ist 1961 kein weit verbreitetes Wissen unter Kindern. Jedenfalls wundert sich niemand, warum man von Lutter am Barenberge – in der Nähe von Braunschweig – nach Frankfurt fahren soll, um von dort nach Kopenhagen zu fliegen.
Für Wolfgang ist nur wichtig, dass er eine Woche in Lutter sein und seine Eltern wiedersehen kann. Und seinen Großvater. Der Wolfgang verreist nach Dänemark? Schon schleppt der OpaKartons mit Puddingpulver, Kakao, Bronchialtee, Hagebuttentee vom Dachboden herunter, das aus der Auflösung der Puddingfabrik stammt. Wolfgang strahlt ihn an: Mein Opa, denkt er, mein Opa. Da holt der Großvater auch noch Obst aus seinem Garten und packt es dazu. Nichts davon erhält Wolfgang in Chile.
Schließlich wird ein Foto von Wolfgang gemacht. Zur Erinnerung. Ein Brustbild. Er in einem gestreiften Pullover, den eine Schulfreundin ihm geschenkt hat, als er zwölf wurde.
Beim Abschied, der ein Auf-Nimmerwiedersehen-Abschied ist, fängt es an zu regnen. Wolfgang sitzt mit seinen Eltern und seinem ältesten Cousin im Auto der Eltern. Da sagt der Cousin plötzlich zu ihm: »Wolfgang, nimm dir ein Mädel, ich kenne dich von früher her, du würdest es lieben, nimm dir eins.«
Wolfgang ist vierzehn. Der Cousin ist zwei Jahre älter. Die beiden sind zusammen aufgewachsen, er kennt Wolfgang wirklich. Er ahnt, was auf Wolfgang zukommt und will ihn warnen. Ob die Eltern eine
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