Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Erzieher. Aber er ist ihnen viel zu weich. Deshalb beschließt man schon frühzeitig, ihn zu einer dieser Strafaktionen mitzunehmen und ihn abzuhärten. Gestraft wird die kleine Gudrun Wagner. Warum, weiß Johannes Bechtloff nicht. Er weiß nur, dass sie in einen jungen Mann verliebt ist.
Gudrun wird abends in den VW Bulli verfrachtet, man fährt mit ihr in offenes Gelände, und unterwegs schlagen zwei Männer sie mit Kabelenden blutig. Vorher muss sie sich ausziehen. Diesmal sind Kurt Schnellenkamp und Gerhard Mücke die Schläger. Auch Johannes Bechtloff bieten sie ein Stück Kabel an. Aber der weigert sich. »Will denn keiner außer mir?«, fragt Gerhard Mücke, als ob er ein Stückchen Kuchen anbietet. Johannes dreht sich der Magen um.
Als Johannes Bechtloff die Gruppe verlässt, weiß er genau, was im vergangenen Jahr mit Gudrun Wagner geschehen ist. Gudrun selbst weiß es nicht mehr. Johannes wird es nie vergessen. Gudrun aber kann sich auch nach Jahrzehnten nicht daran erinnern.
Noch einer weiß mehr als Gudrun: Schäfers Schulfreund Willi Georg. Erst 1966 wird er davon berichten. Als er weit weg ist, in Australien. Willi erinnert sich genau, wie er mit Gudrun auf dem Motorrad über holprige Straßen fahren muss, damit »das Schlimme nicht eintritt«. Auch Ida Ritz muss mit den anderenzusammen wieder einmal beten, »damit das Schlimme nicht passiert«. Was »das Schlimme« ist, wird ihnen nicht gesagt. Gudrun muss eine Aussage bei der Polizei machen. Aber auch das vergisst sie schnell wieder.
Später wird Johannes Bechtloff noch Zeuge, wie sie Alfred Matthusen prügeln. Den schlägt man im Keller zusammen. Nackt über den Tisch gelegt. Bei dem nächsten Mädchen nimmt man Johannes schon gar nicht mehr mit. In Sachen Prügel gilt er als hoffnungsloser Fall.
An staatlichen Schulen werden Kinder zu dieser Zeit noch geprügelt. 1957 hat der Bundesgerichtshof bestätigt, dass Lehrer die Kinder schlagen dürfen. Dass Eltern es dürfen, gilt als selbstverständlich. Schäfer äußert sich also »politisch korrekt«, wenn er sich im Rundbrief für Schläge und Furcht als erzieherische Maßnahme ausspricht:
»Das Kind wird seine Unarten lassen und sich fürchten. Durch die ausgestandene Züchtigung lernt es, was wehtun bedeutet.« 49
Dass die Führungsschicht der Schäfer-Sekte prügelt, gilt im Rahmen der damaligen Gesellschaft als »normal«. Aber wie sie prügelt, nicht. Viele Opfer müssen sich wochenlang auf der Krankenstation erholen. Nicht Gesundung ist dabei das wichtigste Ziel, sondern die Isolierung derer, die sich nicht anpassen wollen. Verständlich, dass Johannes den Schleichweg in die Freiheit wählt, statt den durch die Fäuste des früheren SS -Mannes Kurt Schnellenkamp.
Eigentlich ist alles ganz anders geplant. Eigentlich soll Johannes Bechtloff nach der Auswanderung für die Landwirtschaft in der Kolonie in Chile zuständig sein; seit einem Jahr geht er auf die Landwirtschaftsschule im Nachbarort Much. »Du bist der Landwirtschaftsminister«, sagt Paul Schäfer zu ihm. Das Landgut in Chile wird bald gekauft, die Reisepässe liegen bereit.
Die Kinder aus der Privaten Socialen Mission fahren nach Much zur Schule, nicht ins viel näher gelegene Siegburg. Auchdies ist eine Strategie Schäfers, um Spuren zu verwischen: Die Lehrer als Beobachter direkt nebenan, das wäre ein zu großes Risiko.
Jeden Morgen fährt Johannes Bechtloff genau wie die Schulkinder mit dem Bus nach Much. Jetzt will er flüchten, doch die Form will er wahren. So schreibt er einen kurzen Abschiedsbrief. Auch dabei nimmt er sich in Acht, dass keiner ihn beobachtet. Er könne es nicht mehr verkraften, schreibt er, daher verlasse er die Gruppe. Dann geht er wie immer mit den Schulkindern zur Bushaltestelle, steigt im letzten Moment in den Bus der Gegenrichtung. Voller Angst und Scham, er kommt sich vor wie ein Dieb in der Nacht. Er fährt so weit, wie sein weniges Geld reicht. Bis Uelzen. Von dort muss er per Anhalter weiter. Irgendwann erreicht er dann Hamburg und kommt zu seiner hochschwangeren und überglücklichen Frau.
Nun fehlen noch ihre eigenen Kinder. Ein Anruf bei den Pflegeeltern in Gronau: Die Kinder wurden heute abgeholt und nach Siegburg gebracht. Als Geiseln genommen. Aber der Pflegevater, ein mutiger Mann, ruft wütend dort an. »Ihr habt uns angelogen. Wenn die Kinder nicht sofort nach Hamburg gebracht werden, gehe ich zur Polizei.« Das Wort Polizei zieht. So treffen der neue kleine Bechtloff und die
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