Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Wagner erpresst. Ob er ahnt, was Basti bevorsteht, weiß man nicht. Man kann es aber vermuten. Die Jungen in Bastis Alter wissen alle Bescheid.
Wolfgang Müller, der drei Jahre älter ist als Basti, beschreibt es verschlüsselt als Ortsbegehung. »Der Basti kommt rein in das Haus, da ist erst ein ganz großer Raum, danach kommt der Waschraum, dann ein Viererzimmer, dann ein Dreierzimmer, noch ein Dreierzimmer, geradeaus hat Schäfer sein Zimmer, links rein ist das Konferenzzimmer. Schäfer hat auch ein extra Bad. Da hat er sein Reich aufgebaut. Er hat immer das Beste vom Besten.«
Diese Schilderung der Initiation, der ersten sexuellen Begegnung mit Schäfer, die über sein übliches zwanghaftes Befummeln in bekleidetem Zustand hinausgeht, klingt bei vielen Betroffenen ähnlich: Türen werden geöffnet, Räume betreten, Waschungen zelebriert, das Kind dem Erwachsenen durch einen Boten zugeführt. Stufen eines Rituals.
KAPITEL 8
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Entführung
1961
Politik: Bau der Berliner Mauer; John F. Kennedy: US -Präsident;
Juri Gagarin: erster Mensch im All.
Gesellschaft: Reisewelle; Antibabypille;
Rekordumsatz bei Sekt.
Schlager: Are you Lonesome Tonight? (Elvis Presley).
Im Kino: West Side Story; Dorf der Verdammten;
Augen der Angst (Karlheinz Böhm);
Spruch des Jahres: Unser Dorf soll schöner werden!
Von dem erwirtschafteten und gespendeten Geld der Sektenanhänger bleibt auch nach dem Bau des Jugendheims viel übrig für eine Reise nach Nordafrika und in den Nahen Osten, die Paul Schäfer, Hugo Baar und Hermann Schmidt Ende 1960 unternehmen. Recht bequem reisen sie drei Monate lang durch Nordafrika, vermutlich auf der Suche nach einer Bleibe. Auswanderungspläne gibt es schon lange. Wie wäre es mit einem Kibbuz? Auch Kanada, Australien und Südafrika sind im Gespräch.
Über Frankreich und Spanien geht es nach Marokko. Wegen des Algerienkriegs machen sie einen Umweg über Italien und Tunesien, reisen dann weiter nach Israel. Zwischendurch taucht Schäfer zweimal in Heide auf, bleibt zwei Tage, fährt dann wieder nach Frankfurt und fliegt nach Tunesien. Von dort weiter nach Ägypten. Aus Ägypten kommt er plötzlich noch einmal für zwei Tage nach Siegburg. Für die Kinder ist es unberechenbar, wann er erscheint.
Wolfgang neidet den anderen Kindern die Mitbringsel. Nur er bekommt nichts.
Ach, scheißegal, denkt er dann, vielleicht hab ich mich zu oft gegen Schäfer gewehrt.
Aus Jerusalem bringt Schäfer dann doch noch etwas mit. Einen palästinensischen Jungen. Schäfer kommt mit dem Vater ins Gespräch, der auf dem Postamt arbeitet und sich freut, ein paar Brocken Deutsch mit einem Deutschen zu sprechen. Schäfer verspricht dem Vater für dessen Sohn eine kostenlose gute Ausbildung in Deutschland. Der Vater ergreift das, was ihm wie eine gute Chance für seinen Sohn erscheint, und lässt ihn ziehen. Eine merkwürdige Geschichte. 50
Nach langen Gewissenskämpfen zeigen einige Eltern Schäfer 1961 endlich wegen sexuellem Missbrauch an. Ein Haftbefehl wird erlassen. Nun entsteht Zeitdruck. »Dann muss ich wohl als Erster abhauen«, sagt Schäfer locker, fast heiter, im kleinen Kreis.
Frühjahr 1961 im Jugendheim in Heide. Speisesaal, es ist kurz vor Mittag. Schäfer betritt den Raum, umgeben von den Brüdern. Alle schauen auf. Er hat eine Prophezeiung, die er in den Raum ruft: »Wir gehen verloren, wir haben den Ruf Gottes, wir sollen dieses Land verlassen und nach Chile gehen. Es wird Zeit, es wird Zeit.« Die Herren Brüder bestätigen dieses, sie alle hätten Entsprechendes geträumt. Hilde Wagner und Gertrud Ritz ebenfalls, wie Kurt Schnellenkamp vor allen berichtet.
Um Zögernde zu motivieren, peitscht Schäfer die Angst vor dem Kommunismus hoch, vor »dem russischen Stiefel, der Europa niedertritt«. Er verkündet immer drastischere Prophetien, die Gott ihm mitgeteilt habe. »Es kommt Krieg, es kommt Gefahr«, hämmert er seiner Gemeinde ein.
Dabei ist er die Gefahr, denkt Ida Ritz.
Latent ist die Angst bei vielen da, Angst, gemischt aus eigenen Fluchterlebnissen und aus Furcht vor der Rache für die Verbrechen der Nazizeit. Es ist die Zeit des Kalten Kriegs, der Aufrüstung, der Debatte über die atomare Bewaffnung. Die Spannungen zwischen Ost und West tragen sicher nicht zur Beruhigung bei.Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wird die Furcht unter den Dagebliebenen noch weiter schüren.
Nun legt Schäfer eine Liste im Speisesaal aus. »Wer mitwill, trage sich da bitte ein!«
Ida Ritz sieht
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