Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
entführten Kinder fast zeitgleich kurz vor Weihnachten zu Hause ein.
Irgendwann verklingt auch bei Familie Bechtloff der übliche Telefonterror, den viele Sekten gegen Abtrünnige anwenden. Einmal noch steht Hugo Baar vor der Tür, und es gelingt ihm tatsächlich, Bechtloff zu einem offiziellen Abschied nach Siegburg zu lotsen. »So sollte man gute Freunde nicht verlassen«, appelliert er an Bechtloffs Ehrgefühl. Dass er tatsächlich mitfährt, legt Johannes sich später als Feigheit aus. In Haus der Privaten Socialen Mission veranstalten sie ein Scheingericht gegen ihn, großer Saal, dunkel, Johannes vorn auf der Bühne. Es hagelt Vorwürfe, er wird beschimpft, bedroht, die Erinnyen zetern und toben. Aber es berührt ihn nicht mehr.
Im Sommer 1960 hält auch Wilhelm Wagner das Leben in Siegburg nicht mehr aus. Er ist die Nähe zu seiner Frau und seiner Familie gewöhnt. Die Wärme, die Vertrautheit. Das Vertrauen. Er erinnert sich an die Zeit im Panzer, im Krieg, als er sein Gelübde abgelegt hat, eine Gemeinde zu gründen, wenn er zu seiner Familie zurückkäme. Und jetzt ist er wieder allein. Ein Jahr fort aus Graz. Den Basti hat er nicht mehr gesehen und die kleine Hedi auch nicht. Wozu das Ganze? War das alles ein großer Irrtum? Er kann mit niemandem reden, muss ganz allein zurechtkommen, wird hin- und hergeschickt zwischen Siegburg und Gronau, arbeitet als Gärtner in der freien Natur, aber er fühlt sich so unfrei wie nie zuvor. Und Sex gibt es auch nicht mehr. Dafür dramatische Predigten, auf ihre Weise erregend. Was Schäfer predigt, dieses intensivere Christentum, enthält auch mehr Brutalität. Das fasziniert viele.
Es fasziniert sie, und sie unterwerfen sich ihm. Geben ihm die Macht. Aber Paul Schäfer ist keiner, der seine Macht teilt. Was er hat, behält er. Zu Schäfers Macht gehört die Ohnmacht der anderen. Für die meisten aber ist Ohnmacht auf Dauer ein unerträgliches Gefühl. Man kann es bekämpfen, indem man eins wird mit dem Täter, indem man sich identifiziert. Indem man ebenfalls brüllt, schlägt und dabei spürt, wie es ist, jemanden seelisch zu vernichten. Solange genügend Opfer zur Verfügung stehen, kann das funktionieren. Aber wehe, einer will weg.
Gudruns Vater will weg. Er könnte einfach gehen. Aber so einfach ist das nicht. Dann könnten ja alle gehen, wenn sie keinen Spaß mehr haben an der Ohnmacht. Doch es hat seinen Preis, wenn man dem Teufel einmal den kleinen Finger gereicht hat, in der irrigen Annahme, nun würde der göttliche Funke überspringen.
Schäfer stellt eine Bedingung: Er will den kleinen Basti haben. Den Vater gegen den Sohn tauschen. Als Mina, die Mutter, einmal mit den Kleinen zu Besuch kommt, wird der Tausch vollzogen.
Gudruns kleiner Bruder will von Anfang an nicht in Heidebleiben, er will da gar nicht erst hin. Da machen sie es mit einem Trick. Papa, Mama und Hedi fahren heimlich nach Hause, und Basti muss in Siegburg bleiben. Da ist Basti zehn. Er will nicht. Er will nicht einmal schlafen gehen, weil er schon etwas ahnt.
Er will nicht, aber er muss. Er ist ein kleiner Junge, und irgendwann ist er müde und schläft ein. Am nächsten Morgen sind die Eltern fort und die jüngste Schwester, die ihm am nächsten ist, auch. Um fünf steht er auf und sieht nach, ob der Wagen noch da ist. Aber der Wagen ist fort.
»Ich hab’s ja gewusst«, ruft er verzweifelt. »Ich hab’s ja gesagt. Ich wollte ja gar nicht schlafen gehen.«
Dieser elterliche Trick ist unsensibel, grob und schützt eher die Eltern als die Kinder. Das ist normal in den Fünfzigerjahren.
Nicht normal sind Paul Schäfer und seine pervertierte Gemeinde. Bestimmt spürt Basti das. Daher ist er im wahrsten Sinne untröstlich. Man kann ihn weder trösten noch beruhigen. Gudrun und ihre Schwester werden von der Arbeitsstelle ins Heim gerufen, damit sie sich um den Bruder kümmern. Aber auch ihnen gelingt es nicht, das heulende Bündel Kinderleid zu beruhigen.
Dann steht Schäfer auf, mittags, wie immer. »Lasst mir den Jungen mal«, sagt er, »ich kümmere mich um ihn.« Alle wissen, wie gut Schäfer mit Jungen umgehen kann. Alle sind erleichtert. Auch Gudrun und ihre Schwester, die es nicht geschafft haben, ihn zu trösten. Doch Basti bleibt untröstlich.
Wilhelm Wagner ist ein Familienmensch. Die Entscheidung, seinen Sohn im Stich zu lassen, trifft er nicht aus freien Stücken. Wenn er eine andere Möglichkeit hätte erkennen können, hätte er diese gewählt. Wahrscheinlich wird
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