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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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Dokument vor:
    Ich, die Unterzeichnete, Vera Müller, geb. Lilischkies, Hamburg, erkläre mich als Sorgeberechtigte für meinen Sohn Wolfgang Müller, Heide b. Birk (Siegkreis), geb. am 10.9.1945, damit einverstanden, dass dieser eine Reise nach Chile antritt, und gestatte ihm, dort Aufenthalt zu nehmen.
    Herr Hermann Schmidt oder Herr Hugo Baar, beide in Heide b. Birk (Siegkreis) sollen berechtigt sein, während der Überfahrt und während des Aufenthalts meines Sohnes in Chile dort meine Rechte, die mir als der Sorgeberechtigten meinem minderjährigen Sohn gegenüber zustehen, voll wahrzunehmen.
    Hamburg-Altona, den 28. April 1961
    Vera Müller
    Der Wert dieser Urkunde ist auf 100,– DM festgesetzt. Daraus berechnet sich die Gebühr von 3,12 DM .
    Am 28. April wird das Einverständnis gegeben. Am 26. Juli landet Ernst-Wolfgang Kneese in Santiago de Chile. Ein Vierteljahr liegt dazwischen. Genug Zeit wäre gewesen, noch einmal über alles nachzudenken.
    Einige Unterschriften dieser Übertragungsurkunden sind tatsächlich gefälscht. Die Jungs werden einfach zu schnell abtransportiert. Der Papierkram muss hinterher erledigt werden.
    Beim Lesen dieser Urkunde fragt man sich unwillkürlich, ob es auch heutzutage nur um die Rechte der Sorgeberechtigten geht, nicht um deren Pflichten. Und die Rechte der Kinder? 1989, fast dreißig Jahre nach Wolfgangs Entführung, formuliert die UN die Kinderrechtskonvention 51 . In unsere Verfassung ist sie immer noch nicht aufgenommen.
    Mitte September in Düsseldorf: Gertrud Ritz besucht ihre Schwester an deren Arbeitsplatz in der Klinik. »Ida«, sagt sie entschlossen, »ich bleibe auch hier und fahre nicht nach Chile.«
    Gott sei Dank, jetzt hat sie es geschnallt, denkt Ida und ist ungeheuer erleichtert über Gertruds Umkehr.
    Aber am nächsten Tag schon erscheinen Hugo Baar und Kurt Schnellenkamp an Gertruds Arbeitsplatz auf der Geflügelfarm. Sie gehen direkt zum Besitzer der Farm. »Wir nehmen Fräulein Ritz und ihre persönliche Habe sofort mit«, setzen sie ihn in Kenntnis in einem Ton, der Nachfrage und Widerspruch verbieten soll. »Sie verlässt Deutschland und wandert aus.« Dann packen sie Gertruds Habe und Gertrud ein und fahren ab.
    In der folgenden Nacht schreckt Ida in ihrem Bett im Schwesternzimmer der Düsseldorfer Klinik aus dem Schlaf hoch: Eine Gestalt steht im Dunkeln neben dem Bett.
    »Ida, wach auf«, sagt sie. Es ist Gertrud.
    »Was ist denn?«
    »Ich gehe nach Chile. Hugo Baar und der Schnellenkamp haben mich abgeholt.«
    Ida springt aus dem Bett, packt ihre Schwester an den Schultern, rüttelt und schüttelt sie. »Gertrud, wach auf, komm zu dir! Es ist alles Lug und Trug.« Sie heult Rotz und Wasser, kann sich gar nicht beruhigen. Aber sie erreicht ihre Schwester nicht. Die bleibt ganz ruhig. »Beruhige dich doch, Ida, ich drohte verloren zu gehen, aber Gott hat mich noch einmal bewahrt.«
    Gertrud ist völlig blockiert, nicht zugänglich. »Ich habe keine Zeit«, sagt sie, »der Hugo und der Schnellenkamp warten im Treppenhaus auf mich.«
    Ida folgt ihr ins Treppenhaus.
    »Was heulst du denn?«, sagt Schnellenkamp zu ihr. »Du kannst doch mitkommen.«
    »Das kommt für mich nicht infrage«, antwortet Ida, »das tue ich unseren Eltern nicht an.« Der Blick aus Hugo Baars Augen erschreckt sie. Das ist nicht mehr Hugo, der sanfte Familienvater, das ist ein Wahnsinniger. Der starrt Ida an und donnert los: »Wer ist dein Vater und deine Mutter? Die den Willen Gottes tun!«
    Und Idas Eltern tun ihn nicht, will er damit sagen.
    Am 14. September fährt Ida noch einmal mit ins Heim nach Siegburg. Dort darf sie sich ein Abschiedslied wünschen, weil sie Geburtstag hat. Sie wählt ein Volkslied:
    Heut noch sind wir hier zu Haus,
    Morgen geht’s zum Tor hinaus.
    Und wir müssen wandern, wandern,
    Keiner weiß vom andern.
    Lange wandern wir umher
    Durch die Länder kreuz und quer,
    Wandern auf und nieder, nieder,
    Keiner sieht uns wieder.
    Einen Tag verbringen die Schwestern noch zusammen. Am 16. September 1961 lassen sie sich fotografieren für ein gemeinsames Abschiedsfoto. Dann verlässt Gertrud Ritz ihre Familie und fährt nach Chile.
    *
    Dass diese Reisen viel Geld kosten, weiß Lilli aus Gronau genau. »Das Geld war unsere Entschädigung, weil wir in Kriegsgefangenschaft waren. Mein Vater in Russland, meine Mutter und wir vier Kinder im polnischen Lager. Meine Mutter hat das Geld bekommen. Dann hat sie entschieden, dass mein Bruder das Geld haben soll für die

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