Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Fahrt nach Chile. 2 400 DM kostet das.«
Lillis Vater nimmt, nach anfänglichem Zögern, Abstand von der Gruppe. Hugo Baar hat einen Fehler gemacht. Aus einem Nebenraum hört Lilli, wie Hugo Baar ihren Vater anschnauzt. Grob, laut und beleidigend.
»Ich lass mich doch von dir nicht anschnauzen«, sagt er zu Baar. »Ich könnte dein Vater sein.« Er ist 66 Jahre alt, und Hugo Baar ist in den Dreißigern. Wütend stapft Lillis Vater aus dem Raum und lässt Baar stehen.
»Ich lass mich doch von dem nicht anschnauzen«, sagt er auch zu Hause der Familie, immer noch wutschnaubend. Lillis Vater fordert Respekt ein, und er bleibt konsequent. Um die Kinder ist er weiterhin besorgt, und er will nicht, dass sie nach Siegburg fahren. Immer wieder spricht er von seinem Gefühl, »dass es die falsche Bahn einschlägt«.
Trotzdem schlägt Lillis Bruder 1961 Schäfers Bahn ein und fährt nach Chile. Dort lebt er immer noch. Im Reisegepäck der Gruppe ist auch ein Teelöffel mit der Gravur »Weihnachten 1953«.
Der Bruder ist schon eine Weile in Chile, als plötzlich Hugo Baar wieder bei Lillis Mutter in Gronau auftaucht und merkwürdige Fragen stellt. Baar betreut weiterhin die deutsche Dependance, die mit reduziertem Personal bis 1976 funktioniert. Alfred Schaak, der kaufmännische Leiter, bleibt bis 1985 mit anfangs zwanzig Mitarbeiterinnen in Siegburg. Eine davon ist Gudrun. Schaak kümmert sich um die sieben Läden der Schaak und Kuhn OHG und organisiert den Export von allem, was die Kolonie benötigt – Fahrzeuge, Maschinen, Chemikalien und Waffen. Mit Zollkontrollen gibt es keine Probleme: Die Private Sociale Mission und Colonia Dignidad sind als gemeinnützig anerkannt und stehen ab 1973 unter besonderem Schutz. Waren, die sie verschicken und bekommen, werden vom Zoll nicht geprüft.
»Sag mal«, sagt Hugo Baar nachdenklich zu Lilli, nachdem er ein Gespräch über Schriften angefangen hat, »wie schreibt sich euer Heinrich eigentlich?«
»Der druckt das H immer so«, antwortet Lilli und macht es vor. Es ist wie ein Spiel: Buchstaben malen. Sie begreift nicht, dass Hugo gerade Urkundenfälschung übt.
Damit meldet er Lillis Bruder ab, als der schon längst in Chile ist. Erst jetzt ist er 21 geworden und könnte sich nun selbst abmelden. Nun macht es eben Hugo. Den Beleg mit der gefälschten Unterschrift besitzt Lilli immer noch.
Schon 1962 wird der Sitz der Privaten Socialen Mission mit allen Gebäuden für 900 000 DM an die Bundeswehr verkauft. Die Kontakte zur Bundeswehr sind gut. Kaum zwei Jahre hat der Verein dieses in mühsamer Arbeit errichtete, selbst finanzierte Anwesen in Besitz. Dann macht Schäfer alles wieder zunichte.
TEIL 2
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Gespaltene Welten
Chile 1961-1997
»Ich brauche einen Ort,
wo mir niemand reinriecht.«
Paul Schäfer, 1949
KAPITEL 9
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Das Gelobte Land
Chile 1961
D ie Auswanderung und die Ansiedlung in einem abgelegenen einsamen Landstrich im südlichen Chile ermöglicht dem Führer der Sekte eine noch straffere Organisation und Kontrolle. Nach einer relativ entspannten Anfangsphase, die durch den Aufbau geprägt ist, wird das Leben der Menschen gespalten wie mit einer Axt: brutal und messerscharf.
Alles, was in Siegburg galt, wird hier noch rigoroser durchgesetzt. Hohe Zäune werden errichtet, Stacheldraht gezogen, ein hermetisch abgeriegeltes Arbeitslager entsteht. Die Siedler haben kein Geld, die Pässe sind unter Verschluss, ein Entkommen ist kaum noch möglich. In Siegburg konnte man noch zur Bushaltestelle gehen und einfach wegfahren. Hier gibt es keine Busse. Und verständigen kann man sich mit der spanisch sprechenden Bevölkerung auch nicht. Die meisten Siedler sprechen nur Deutsch und sollen auch nichts anderes lernen.
Das Leben wird nach Geschlecht, Hierarchie, Alter, Funktion aufgespalten. Das Geld für den Aufbau der Colonia Dignidad wird anfangs noch in den sechs bis neun Läden der deutschen »Zweigstelle« in Siegburg erwirtschaftet. Kontakt dorthin ist nur wenigen der »Herren« vorbehalten, meist geht es dabei um geschäftliche Aufträge. Oft sind diese Geschäftsbriefe in einem unangemessenen Ton pubertärer Albernheit gehalten: Ein Klausi schreibt an einen lieben Bäcker und grüßt von Wolle in einer Bestellung von dreizehn Kuhglocken, die vom dreigestrichenen C bis zum viergestrichenen C gestimmt sein sollen. Das wirkt emotional, heimelig, soll aber nur für Außenstehende verschleiern, wer da eigentlich anwen schreibt. Private Briefe sind selten; Inhalt
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