Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Ahnung haben, was auf ihren Sohn zukommt?
Den Cousin sieht Wolfgang nie wieder, er stirbt, als Wolfgang in Chile ist.
Sport – Spiel – Spannung
Zurück im Heim wirkt zunächst einmal alles wie ein großes Abenteuer für Kinder. Als hätten es die Macher von »Sport – Spiel – Spannung« erdacht, der Jugendserie, die seit 1959 im deutschen Fernsehen läuft.
Um sechs Uhr früh müssen sie hoch und Kohlen abladen bei Kunden von Alfred Schaak. Schaufeln, abladen, schaufeln, abladen. Das ist normal.
Wenn Wolfgang erzählt, wie es weitergeht, wird noch etwas von der kindlichen Freude über die positiven Seiten dieser Aufregung spürbar. Lachend sagt er: »Nach den Kohletransporten waren wir schwarz wie die Neger. Dann haben wir geduscht. So lange hab ich noch nie geduscht. Und trotzdem wurden wir nichtsauber. Das Hemd anziehen und so, denn wir mussten uns schnell fertig machen. Es war Sommer, trotzdem kriegten wir zweimal lange Unterwäsche anzuziehen. Dann kurze darüber. Dann kam noch eine Hose drüber. Noch eine Hose, noch ein Hemd, noch ein Hemd, noch eine Jacke drüber.«
»Was soll das denn?«, fragt er.
»Wird nicht verraten!«
Wolfgang hat das Gefühl, doppelt so dick zu sein wie sonst. Er fliegt im Wintermantel nach Chile. In Deutschland ist Sommer, dort Winter. Aber das wissen die Kinder nicht. Die Taschen werden vollgestopft mit Steckern, Batterien und was man sonst noch brauchen kann. Und die vielen Klamotten. Auch schwere Autoersatzteile sind dabei.
»Warum nehmen wir das alles mit nach Dänemark?«
»Schnell, schnell, Beeilung, alle einsteigen!«
Antworten auf die Fragen gibt es nicht. Aber sie kommen kaum dazu, etwas zu fragen.
In der Eile kriegt Wolfgang viel zu kleine Schuhe zugeteilt, noch dazu Damenschuhe. Er trägt schon Größe 44/45. Das Gehen wird zur Qual. Aber noch schlimmer ist es im Flugzeug. Zwischen Madrid und Dakar zieht er die peinigenden Schuhe aus. Die kriegt er dann nicht mehr an.
Sie fliegen zu sechst, vier Jungen und zwei Erwachsene. Alle fliegen in kleinen unauffälligen Gruppen, zu dritt, zu viert, zu sechst, in ganz normalen Passagiermaschinen.
»Unsere war eine Comet«, sagt Wolfgang.
Unsere war eine Comet . Der erste Flug. Und dann gleich so was.
Gerd Seewald und Erwin Bohnau sind die erwachsenen Begleiter. Dieter, Basti, Wolfgang und noch ein Wolfgang die Entführten.
Zu Schäfers Sekte gehören drei Jungen mit Namen Wolfgang Müller. Schäfer hat die Jungen nach Haarfarben sortiert und sie einer Fahne zugeordnet: der schwarz-rot-weißen Kaiserfahne, die in Siegburg hängt.
Wegen des Haftbefehls wagt Schäfer zu diesem Zeitpunkt keinen Grenzübertritt nach Deutschland mehr. Er hält sich eine Weile in Brüssel auf, vermutlich auch in Luxemburg. Alle minderjährigen Jungen, die gegen ihn aussagen könnten, werden so schnell und so unauffällig wie möglich außer Landes geschafft.
Gudrun merkt anfangs nur, dass jemand im Jugendheim fehlt, weiß aber nicht, wo der geblieben ist. Aber so etwas geschieht ihnen allen, sie müssen mal hier, mal dort arbeiten. Sie fügen sich.
Man weiht sie in keinen Plan ein. Aber plötzlich dürfen die Wagner-Kinder zu einem Besuch nach Österreich fahren. In Wirklichkeit ist es ein Abschied von den Eltern, doch das weiß der zwölfjährige Basti nicht. Nachts kommen sie zurück ins Jugendheim in Heide. Am nächsten Morgen müssen Hilde und Gudrun schnell zur Arbeit in verschiedene Geschäfte. Als sie abends zurückkommen ins Heim, schaut Gudrun sich um: »Wo ist denn der Basti?«
»Der Basti ist nicht mehr da, der Basti ist weg.«
»Was heißt weg?«
»Das wissen wir nicht, der Basti ist weg. Der musste sein Zahnputzzeug holen und wurde ins Auto geladen. Er selber wusste gar nichts.«
Ein beklemmendes Gefühl stellt sich ein: Menschen verschwinden von einem Moment auf den anderen. Man hört keinen Aufschrei, nur leise Verwunderung. Andere wissen Bescheid, sagen aber nichts. Die Schwestern gehen nicht zur Polizei. Konnte das so einfach geschehen, wenige Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs ?
Normalerweise hätten die Eltern ihr Einverständnis geben müssen, aber dies ist eine Entführung. Es wird Jahrzehnte dauern, bis Gudrun und Wolfgang das erkennen können.
Doch vielleicht gaben die Eltern ja ihr Einverständnis? Hielten es aber nicht für nötig, ihren Kindern davon Mitteilung zu machen? So wie die Mutter von Ernst-Wolfgang Kneese (damals Müller)ihr Einverständnis gab. Ihre Unterschrift liegt als archiviertes
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