Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
an die Schläfe, immer häufiger droht er Wolfgang, ihn zu erschießen. »Wenn du ein Wort sagst von dem, was hier passiert, dann drück ich ab.«
Schäfers Pistole ist immer griffbereit, das weiß Wolfgang. Er beobachtet Schäfers wachsende Verfolgungsangst. Man kann es kaum mehr einen Wahn nennen, denn die Angst ist durchaus berechtigt: Die Liste von Schäfers Straftaten ist lang und wird länger zur Zeit der Militärdiktatur; als sich die Liebesgeschichte zwischen Wolfgang und Gudrun entwickelt, kommen noch Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinzu.
Bevor Wolfgang den Raum neben der Küche betritt, in der Gudrun jetzt arbeitet, wird der Vorhang zugezogen, damit sie sich nicht sehen. So kann Wolfgang Gudrun zwar nicht mehr anschauen, aber am zugezogenen Vorhang erkennt er, dass Gudrun nebenan sein muss. Dann meint er, sie zu spüren. Sie dürfen sich nicht sehen, aber manchmal gelingt es ihnen doch. Meist ist es nur ein kurzer Blick, einmal eine Berührung der Hände.
Später arbeitet Gudrun in der Käserei. Sie steht um halb fünf auf, um fünf beginnt die Arbeit. Es ist Knochenarbeit. Der chronische Schlafmangel verhindert Erholung, er macht den Verstand dumpf, er verhindert Widerstand. Doch einmal steht Gudrun noch früher auf, schon um halb vier. Sie muss weiterhin im Krankenhaus schlafen, mit Maria Strebe in einem Zimmer. Morgens muss sie an Maria Strebe vorbei und an der Türwache auch. Jedes Mal muss sie sagen, warum und wohin sie geht. Dieses Mal wird sie gefragt, warum sie so früh geht.
»Ich habe heut was Großes vor«, sagt sie, und innerlich lacht sie. »Ich muss sehen, dass ich das schaffe, bis die Milch kommt.« In einer Stunde wird die frisch gemolkene Milch angeliefert.
Den Satz »Ich habe heut was Großes vor« auszusprechen und dabei so zu schauen wie immer, macht Gudrun Freude. Sie meint etwas ganz anderes, als der Wachtposten glaubt.
Sie hat etwas Großes vor, denn es ist etwas Großes, wenn sie Wolfgang in seinem Zimmer besuchen kann. Er holt sie ab. Sie müssen aufpassen, dass niemand sie sieht. Natürlich ist es ein Risiko, hinein- und ungesehen wieder herauszukommen. Natürlich zittert sie innerlich. Das andere Bett ist schon leer, der Kumpel ist zur Arbeit gegangen. Im Zimmer ist es schön warm, Wolfgang hat extra geheizt. Am Abend vorher schon hat er den Ofen angemacht.
»Was machst du Feuer? Wofür das denn?«, fragen ihn die anderen.
»Mir ist so kalt«, sagt er.
Geheizt hat er, und Decken hat er auch besorgt, damit es nicht so hart ist und so kalt. Sie legen sich auf den Boden, damit das Bett nicht knarrt.
Dies ist das Jahr 1985. Gudrun ist jetzt 44 und Wolfgang 39 Jahre alt. Sich zu sehen ist schwierig. Sich zu treffen fast unmöglich. Und immer mit Angst verbunden. Aber sie machen weiter. Eine Hoffnung, dass sie zusammenbleiben dürfen, gibt es nicht. In diesem Jahrzehnt darf keiner heiraten.
Eines Tages entdeckt man sie zusammen in einem der abgestellten Busse in der großen Autohalle. Mittags haben sie sich getroffen, die Zeit reicht gerade für ein paar Worte, vielleicht eine Umarmung. Als Wolfgang wieder an die Arbeit geht, zum Sandstrahlen, beobachtet einer, wie er den Träger seiner Latzhose zurechtrückt. Und die Fantasie des verheirateten Beobachters läuft Amok. Dieses Tropenhaus unterdrückter Sexualität ist die Brutstätte für extreme Fantasien. Der Mann hastet zu Schäfer und behauptet, die beiden hätten miteinander geschlafen.
Die Erinnerung an das, was dann geschah, ist bis heute bildhaft in Wolfgang gespeichert. »Zwei Stunden später kommen alle Herren auf mich zu und bilden einen Kreis um mich, damit ich nicht abhauen kann. Ich arbeite gerade mit dem Sandstrahler auf dem Dach eines Busses. Wenn ich wollte … so ein Strahl ins Gesicht ist tödlich.«
Aber er tut es nicht.
Er muss vom Wagen klettern, und dann kommen die »Herren« von allen Seiten auf ihn zu.
»Stell das mal aus«, sagt Schnellenkamp.
»Wieso, ich bin doch mittendrin.« Wolfgang stellt sich ahnungslos.
»Mach aus!«, schreit Schnellenkamp.
Wolfgang blickt ihm in die Augen und sieht, es hat keinen Sinn. Er stellt das Gerät aus.
»Wo warst du?«
»Wieso?«
»Wir wissen, dass du mit der Gudrun in der Autohalle warst.«
Beide werden getrennt verhört. Beide streiten es ab, aber man glaubt ihnen nicht.
»Doch, du warst mit der Gudrun in der Autohalle! Was habt ihr da gemacht?«
»Gar nichts.«
»Du lügst!« Klatsch! Die erste Ohrfeige.
»Was habt ihr da gemacht?«
»Gar
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