Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Minuten Vorsprung müssen sie fünf bis sechs Stunden lang durch Wälder hetzen, steile Hänge hochklettern, sich in Schluchten hinablassen, sich durch Brombeerhecken, Staub, Wasser und Wildnis kämpfen und dabei falsche Fährten legen, hinter sich ein Rudel von achtzehn Hunden. Mehrere Jahre macht Bernd das, dann fühlt er, dass dieses spezielle Bedürfnis nun seine Erfüllung gefunden hat. Es gibt einen Moment, da hört er eine Stimme in sich: »Jetzt ist es gut, mein Kind.« Bernd empfindet das so, als hätte Gott zu ihm gesprochen.
Als Gudrun die Hunde hinter sich hecheln hört, in diesem gottverlassenen Wald, in dem sie nichts anderes will, als endlich einmal wieder mit Wolfgang allein sein, wird sie von Panik erfasst. Sie weiß nicht, wohin, aber sie will weglaufen. Wolfgang hält sie am Arm fest.
Nun ist es aus, denken die beiden. Verstecken ist sinnlos. Aber als er nur noch vierzig Meter von den beiden weg ist, bleibt der Trupp stehen, ruft die Hunde zurück, lässt Wolfgang und Gudrun gehen.
Es bleibt folgenlos. In der Zentrale sagen sie, sie haben nichts gesehen. Wolfgang und Gudrun werden geschützt.
Später erfährt Wolfgang den Grund. Einer der Verfolger, Erwin Fege, ist auch verliebt. Wenn ich was sage, denkt er, dann stellt Wolfgang mich auch bloß.
Außerdem ist Wolfgang einer der Besten beim Karate und beimJudo. Sie befürchten, dass er seine Fähigkeiten anwendet. Davor hat auch Schäfer Angst.
Ausgebildet wird der Sicherheitstrupp zur Zeit der Militärdiktatur Augusto Pinochets von Mitgliedern des Geheimdienstes DINA , der gefürchteten Geheimpolizei. Der Ausbilder, so Wolfgang, ist ein Freund von Paul Schäfer, er heißt Jaime Badija 71 .
Seine Jungs sollen kämpfen und ihn verteidigen können, meint Schäfer, aber sie dürfen nicht so stark sein, dass sie sich zusammenschließen und ihre Kraft gegen ihn richten können. Deshalb darf Wolfgang nicht weiter ausgebildet werden. Den Braunen Gürtel würde Wolfgang bekommen, wenn es möglich wäre, eine Prüfung abzulegen. Aber das ist nicht möglich, es muss geheim bleiben, dass die sanften Siedler Kampftechniken lernen.
»Jaime lag mal eine Zeit lang bei uns im Krankenhaus«, erzählt Wolfgang, »den hatten die Kommunisten zusammengeschlagen. Das sollte uns nicht passieren, deshalb lernten wir Judo und Karate.«
Willi Malessa und Wolfgang sind besonders begabt und lernen schnell. Wolfgang wirft sogar Mauk auf die Matte, und der hat über 120 Kilo und ist 1,84 Meter groß. Den wirft er um, und den Ausbilder Badija auch. Das macht Wolfgang Spaß. Er begreift, dass es um Schnelligkeit geht, und schnell war er schon als kleiner Junge beim Fußball. Schnell sein, und die Griffe müssen sitzen. Meditation und Konzentration, das lernen sie nun. Sechs Steine aufeinander schlägt er durch und fühlt sich wie Danilo. Wie damals in der Kindheit. Und es ist doch kein Kinderspiel.
Besonders der Schrei begeistert ihn. Die Spannung, die im Körper sitzt, kann raus im Moment des Schreis, ein Schlag, und die Steine sind durch. Nur mit Konzentration. Wunderbar.
Badija erkennt Wolfgangs Fähigkeiten. »Ich will euch kämpfen lassen«, sagt er, »damit ihr einen anerkannten Gürtel kriegt.«
Doch der Mauk funkt dazwischen. »Kommt nicht infrage.«
Dann kämen sie mit anderen in Kontakt, und das muss Schäfer verhindern. Außerdem soll niemand merken, wie geübt sie sind.
Und da bricht der Stolz in Wolfgang durch. »Schäfer hat es verhindert, aber er hat mich auch gemocht. Weil ich stark war und ein Draufgänger. Ich bin sechzehn Meter tief getaucht, ohne Maske, und fast drei Minuten unten geblieben.«
Ein weiterer Karate-Trainer von Wolfgang ist Eugenio Berríos 72 . Außerdem ist Berríos Chemiker der DINA . Er arbeitet mit der Colonia Dignidad und auf deren Gelände an chemischen und biologischen Waffen wie Sarin, Anthrax und Botulin. 1995 wird er ermordet. Sein Chef, Manuel Contreras, sehr gut befreundet mit Paul Schäfer, geht in der Colonia Dignidad ein und aus, macht dort mit seiner Familie auch Ferien. Der Mamo, sagt der Wolfgang, und die anderen sagen es auch. Fast zärtlich klingt das.
KAPITEL 22
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Sehnsucht
1987
Politik: Barschel-Affäre.
Gesellschaft: Mathias Rust, der Kreml-Flieger.
Im Kino: Dirty Dancing (Patrick Swayze);
Crocodile Dundee (Paul Hogan).
Hitparade: Stand by me (Ben E. King).
TV : Scheibenwischer (Dieter Hildebrandt);
Schwarzwaldklinik (Klausjürgen Wussow);
Einer wird gewinnen (Hans-Joachim Kulenkampff).
Literatur: Das
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