Unser Leben mit George
immer
Ausschau nach ihm, wenn ich mit der Northern Line fuhr, aber ich sah ihn nie
wieder.
Im Frühjahr 2003 war ich zu dem Schluss
gekommen, dass es an der Zeit sei, alle diesbezüglichen Gedanken erst mal zu
vergessen und zur Abwechslung mein Alleinsein zu genießen. Bisher hatte ich es
erfolgreich vermieden, mir einzugestehen, dass ich allein war, aber vier Jahre
nach Udis Tod war es wohl an der Zeit, erwachsen zu werden und den Tatsachen
ins Auge zu sehen. Schließlich war ich gerade neunundvierzig geworden. In
meinem Alter war es fast ungehörig — ganz abgesehen davon, dass es reichlich
unreif war wie ein Teenager auf einen zweiten Traummann zu warten. Es gab
schlimmere Dinge im Leben, als allein zu sein.
Ich hatte Udi im letzten Jahr nicht
weniger vermisst als vorher, ganz im Gegenteil. Aber statt des scharfen
Dauerschmerzes, den ich bisher empfunden hatte, hatte sich die Trauer in eine
Art dumpfes Schmerzgefühl verwandelt, das an- und abschwoll wie Zahnschmerzen,
die kommen und gehen. Die Umstände hatten mich zu einem anderen Menschen
gemacht, als ich es vor Udis Tod war. Ich war stärker, vielleicht ein wenig
eigensinniger und ganz bestimmt sehr viel selbstbewusster geworden. Ich hatte
mich daran gewöhnt, selbst meine Entscheidungen zu treffen, statt darauf zu
warten, dass er die Dinge auf seine eigene unbekümmerte, überschwängliche Art
in die Hand nahm. Ich konnte einen elektrischen Stecker austauschen, kaputte
Scharniere an Schranktüren ersetzen, den Reifendruck prüfen und den
Weihnachtsbaum schmücken. Ich wurde jetzt sogar mit den riesigen Spinnen
fertig, die morgens oft in der Badewanne sitzen: Ich erledigte sie schnell, gewaltsam
und mit halb zugekniffenen Augen.
Im Grunde genommen ging es mir gut,
weil es Joshua gut ging. Eigentlich noch besser als gut, er war förmlich
aufgeblüht. An Udis viertem Todestag sagte er: »Ich vermisse Dad noch immer,
aber ich bin auch so nicht unglücklich. Ich finde unser Leben gut, Mum.« Das
war nicht einfach nur Musik in meinen Ohren, es war eine ganze
Mozart-Symphonie. Ich hatte wirklich allen Grund, dankbar zu sein.
Mein Glas war mehr als halb voll. Ich
hatte mein Kind. Ich hatte Arbeit. Trotz der immer höheren Lebenshaltungskosten
in London war ich bis jetzt ausgekommen, ohne unsere Wohnung verkaufen zu
müssen. Und ich hatte meine Schwester, die mich nach Kräften unterstützte,
obwohl ich ihre Geduld in den letzten vier Jahren oft strapaziert hatte. Ich
hatte auch meine Mutter. Und Tabby, Hannah und Nathaniel, der oft herüberkam
und die Wochenenden mit Joshua verbrachte. Ich hatte auch ein Netzwerk sehr
guter Freunde und Bekannter, von denen viele bis auf meine Schulzeit
zurückgingen. Ich konnte immer auf sie zählen und plagte sie oft mit langen
Telefongesprächen, deren Hauptthema immer dasselbe war: ich selbst.
Und ich hatte George, meinen goldigen,
verschmusten und schrecklich verwöhnten Hund, der zwar schon vier Jahre alt
war, aber mir immer noch folgte wie ein Schatten.
Ein immer breiterer Schatten, trotz
seiner Diät.
Während der ersten beiden Wochen im
August fuhr Joshua mit ein paar Schulfreunden in ein Ferienlager, meine
Schwester machte mit ihrer Familie Urlaub in Frankreich, und Martina besuchte
ihre Familie in Tschechien, alle zur gleichen Zeit, und mir war ein wenig bange
davor, allein in London zu bleiben. Aber als sie alle weg waren, fühlte ich
mich regelrecht frei. George war mein ständiger Begleiter. Ich hätte mir keinen
besseren wünschen können, überlegte ich, als er neben mir auf der Gartenbank
saß und bei der Korrektur des Manuskripts zu meinem Buch über Teresa Cornelys
half, indem er alle Seiten zerfetzte, die nichts taugten.
Hunde waren so viel einfacher als
Freunde. Sie erinnerten sich nie an die hässlichen Dinge, die man gesagt hatte,
noch nahmen sie es einem übel, wenn man ohne sie ausging; das Schlimmste, was
man zu erwarten hatte, waren ein paar zerfetzte Papiertaschentücher auf dem
Boden, wenn man nach Hause kam, was natürlich gleichzeitig der Moment war, wenn
sie sich am meisten freuten, einen wiederzusehen. Hunde beschwerten sich nie.
Anders als Freunde liebten und akzeptierten sie einen, selbst mit Kind, ohne
Vorbedingungen. Bindungsangst kannten sie ebenfalls nicht. Egal, was man von
ihnen verlangte, ein Hund würde einen nie verlassen — es sei denn, es käme
jemand mit einer Tüte Leckerbissen daher. Dann war man abgemeldet, was
allerdings verständlich war.
Eine Frau brauchte sich, um
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