Unser Leben mit George
in der Ferne
waren schmutzig grau, man sah es blitzen und hörte den Donner. Wenn das Wetter
auf dem Campingplatz auch nur halb so schlecht war wie in London, wäre der
Platz überschwemmt und Joshua nass wie eine Wasserratte.
Plötzlich ging die Tür auf, und ein
Mann etwa Mitte fünfzig kam herein. Ich traute meinen Augen nicht: Es war Mr
Belsize Park, der Mann, den ich in der Northern Line getroffen hatte! Aber
nein, er war es doch nicht, er sah ihm nur sehr ähnlich. Er war von mittlerer
Größe und schlankem Körperbau, er trug einen eleganten, makellos weißen
Trenchcoat und hielt einen tropfenden Regenschirm in der Hand. Er war nur ein
wenig größer als ich und hatte durchdringende dunkle Augen und ein
interessantes Gesicht mit etwas unregelmäßigen Zügen, darüber silbergraues
gewelltes Haar. Da er allein war und sich neugierig umsah, vermutete ich, es
sei Professor O’Neill, und stand auf, um mich vorzustellen.
Er zog die Augenbrauen hoch. »Sie sind
Judith?«
»Ja, das bin ich. Sie scheinen
überrascht zu sein?«
»Ehrlich gesagt, das bin ich. Es ist
vielleicht verrückt, aber nach dem formellen Ton Ihrer E-Mail hatte ich Sie mir
ein bisschen mehr wie Miss Marple vorgestellt — Sie wissen schon, dreißig Jahre
älter als Sie, in dickem Tweed, elastischen Strümpfen und vernünftigen
Schuhen!«
»O nein, vernünftige Schuhe und
elastische Strümpfe trage ich nur zu besonderen Anlässen.«
Er lachte und zog seinen Mantel aus,
den er sorgfältig zusammenlegte und über einen Stuhl hängte. Dann setzte er sich
mir gegenüber. Nachdem er die Getränke bestellt hatte — Wodka on the Rocks für
sich und, da ich mit einer langen Liste von Fragen gekommen war und einen
klaren Kopf behalten wollte, Mineralwasser für mich setzte ich mich neben ihn,
und zunächst sprachen wir über das fürchterliche Wetter.
Zwei Stunden später unterhielten wir
uns immer noch, und ich war bei meinem zweiten Glas Chardonnay. Obwohl wir
längst aufgehört hatten, über das Wetter zu sprechen, hatten wir das 18.
Jahrhundert noch immer nicht erwähnt, was mich nicht im Geringsten störte.
Professor O’Neill, Zach, war fünfundfünfzig Jahre alt und nett. Er war sogar
sehr nett: höflich, amüsant und interessant. Und gut aussehend. Obwohl er
offenbar sehr klug war, überrumpelte er einen nicht mit seinem Wissen wie ein
rücksichtsloser Einkäufer mit seinem Einkaufswagen, nein, er trug es elegant
über die Schulter geschlungen wie ein cooler Hippie. Er war Amerikaner
irisch-schottischer Abstammung und war in Boston, Massachusetts, geboren und
aufgewachsen. Er war vor dreißig Jahren nach England gekommen, wo er die
Engländerin kennengelernt hatte, die später seine Frau wurde. Sie waren seit
fünfzehn Jahren geschieden, und da er vor kurzem eine langjährige Beziehung
beendet hatte, war Zach jetzt solo, genau wie ich.
Besonders verführerisch für mich war
es, dass Zach alles über mich wissen wollte und dass alles, was ich ihm
erzählte, ihn wirklich zu interessieren schien. Als der Wein seine Wirkung
zeigte — und ich hatte noch nie viel vertragen können — , merkte ich plötzlich,
dass ich ziemlich unverblümt mit ihm flirtete. Warum tat ich das?, fragte ich
mich. Ich hatte es doch aufgegeben, meinen Traummann zu finden, und mich doch
gerade für ein zufriedenes Single-Dasein entschieden.
Ich sprang auf und griff nach meinem
Mantel. »O Gott, wie spät es ist! Zach, ich habe Sie lange genug aufgehalten,
ich muss wirklich gehen.« Ich ergriff die Rechnung, die der Kellner auf dem
Tisch liegen gelassen hatte. »Das übernehme ich.«
Er streckte die Hand aus. »Bitte...«
»Nein, ich bestehe darauf. Vielen Dank,
dass Sie gekommen sind, und für Ihre guten Ratschläge für das Buch und
überhaupt für alles.«
Er sah verwirrt aus. »Aber ich habe
Ihnen doch gar keine gegeben!«
»Ach?«
»Sie haben mich ja noch gar nichts
gefragt.«
»Ach so, nein, das stimmt wohl. Ich
wusste, dass das zweite Glas Wein keine gute Idee war.« Wir mussten beide
lachen. »Vielleicht könnte ich Ihnen meine Fragen per E-Mail schicken?«
»Okay...« Er sah mich mit seinen
dunklen Augen an. »Müssen Sie wirklich schon gehen? Was ich meine, ist... Haben
Sie noch etwas vor? Ich habe nämlich schrecklichen Hunger. Vielleicht darf ich
Sie zum Essen einladen? Dann könnten Sie mich dabei über das 18. Jahrhundert
ausfragen.«
Ich stellte ihm keine Fragen. In einem
amerikanischen Diner aßen wir eine wunderbare Bratwurst mit
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