Unser Mann in London
hinweglächeln. Wobei, vielleicht ist es präziser zu sagen: Die Engländer schätzen uns. Natürlich auch dafür, dass wir in ihren Augen lustig sind, ohne lustig sein zu wollen.
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Acht Die Trainspotter
An einem Morgen nahm ich den Zug von Liverpool Street Station und lernte beim ersten Halt, auf welche Art sich manche Londoner vergnügten. Sie standen am Bahnsteig und zählten die vorbeifahrenden Züge.
Train spotting
heißt der Spaß,
Züge beobachten
. In England ist es mehr als ein Hobby: eine Bewegung. Nun, da ich die Trainspotter einmal entdeckt hatte, fielen sie mir des Öfteren auf. Ich weiß nicht, ob mich meine Erinnerung täuscht, aber mir kommt es vor, als trugen sie durchweg beige und graue Anoraks, immer bis zum Kinn zugezogen, auch und gerade im Sommer. Block, Stift, oftmals auch Fernglas und Kamera, lagen in ihren Händen. Trainspotter sammeln alle nur erdenklichen Informationen über Zugtypen, Zugfrequenzen, Waggonanzahl, Kennungen. In ihre Listen und Dateien dürfen sie nach den selbstgestellten Regeln nur eintragen, was sie mit eigenen Augen gesehen haben.
Züge zu zählen, muss etwas sehr Beruhigendes haben. Aber ganz vorsichtig gefragt: Ist es nicht ein klein wenig eintönig?
Meine Faszination für alle Arten von Statistiken und Listen konzentrierte sich schon in früher Kindheit auf den Fußball. Einmal holte mich meine Mutter von den Sommerferien bei der Oma in Arfurt an der Lahn ab. Ich begrüßte sie überschwänglich, in voller Überzeugung, dass sie meine Begeisterung teilen würde: «Mama, ich habe das ganze Heft gelesen!» Ich meinte die
kicker
-Sonderausgabe zur Bundesligasaison 1990/91. Damit wir uns richtig verstehen, ein
kicker
-Bundesliga-Sonderheft liest sich so:
Bockenfeld, Manfred. Geboren: 23. 7. 1960. Größe: 1,87 Meter. Bisherige Vereine: FC Oeding, 1. FC Bocholt, Fortuna Düsseldorf, SV Waldhof Mannheim. Bundesligaspiele/Tore: 336/34.
Borowka, Ulrich. Geboren: 19. 5. 1962. Größe: 1,77 Meter. Bisherige Vereine: DSC Wanne-Eickel, Borussia Mönchengladbach. Bundesligaspiele/Tore: 388/19.
Am Ridgeway in Enfield, zum ersten Mal in einer eigenen Wohnung, ergriff mich wieder die Leidenschaft für Listen. Ich begann ein Haushaltsbuch zu führen. Säuberlich notierte ich an jedem einzelnen Tag, wie viel ich wofür ausgegeben hatte.
28. September 2001:
Tanken 50,01 Pounds.
Chicken-Coronation-Sandwich 2,49 Pounds.
Mars-Riegel 0,49 Pounds.
Als meine Mutter davon erfuhr, glaubte sie nicht mehr, dass ich mich in der verspäteten Pubertät befand. Es musste etwas Schlimmeres sein.
Tatsächlich war meine Absicht durchaus ehrenwert. Ich wollte nicht, dass mir die Ausgaben über den Kopf wuchsen; ich wollte überprüfen, ob ich auch mit einem normalen Gehalt zurechtkäme, falls es mit dem Fußball einmal nicht weitergehen würde. Aber die Genauigkeit, mit der ich das Haushaltsbuch führte, kam durchaus dem Arbeitsethos eines Trainspotters nahe. Ich war in England in einem Land der Gleichgesinnten angelangt, im Königreich der Sammler und Ordner.
Der Königszweig der
Spotter
ist zweifellos das Vögelbeobachten. Ich kannte die Spezies von zu Hause: Mein Vater stand oft mit seinem Fernglas auf der Terrasse, die Nachbarn dachten wohl, ist das ein Spanner? Dabei versuchte er nur, Sperlinge und Mäusebussarde zu erblicken. Mittlerweile lässt mein Vater sogar eine CD mit Vogelstimmen laufen, um die Tiere anzulocken. Zum Urlaub fährt er ins Wolgadelta. Um Adler zu sehen.
Engländer bilden die Avantgarde in der Bewegung der
Birdwatcher
, die um die ganze Welt reisen, um seltene Exemplare auf ihrer Liste der gesehenen Vögel abhaken zu können. Den Rekord hält der Engländer Tom Gullick mit über 8800 beobachteten Vogelarten. Es gibt schätzungsweise 10000 verschiedene Spezies. «Es war nicht meine Absicht, einen Rekord aufzustellen», sagte Gullick. «Es ist auf dem Weg nur irgendwie passiert.»
In der Vorstellung der Öffentlichkeit ist der
Birdwatcher
ein Eigenbrötler, aber nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Auf der Suche nach dem
Vermivora chrysoptera
, dem Goldflügel-Waldsänger, kamen an einem Wettkampftag in Kent über 5000 englische Vogelbeobachter zusammen. Manche Birdwatcher haben ihre Arbeitsstelle gekündigt und ihr Haus verkauft, um Vogelarten von den Niederländischen Antillen bis zur Orchid Island abzuhaken. Andere bezahlten mit dem Leben für ihre Leidenschaft. David Hunt wurde 1985 auf einer Vogeltour im
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