Unser Mann in London
Jim-Corbett-Nationalpark in Indien von einem Bengalischen Tiger getötet.
Bei mir führte die Listenleidenschaft noch zu keinen weiteren Schwierigkeiten als einer kleinen Diskussion mit Anneke. Weil sie schon wieder nicht ihre Einkäufe in das Haushaltsbuch in Enfield eingetragen hatte!
Sport ist selbstverständlich ein dankbares Feld für Statistikfanatiker. Doch während ich den Sportteil der Zeitungen las (zunehmend im
Guardian
oder in der
Times
statt in der
Daily Mail
), fiel mir auf, dass hinter dem enzyklopädischen Wissen englischer Sportreporter über einstige Resultate und Torschützen mehr steckte als der wahllose männliche Systematisierungs- und Typisierungs-Tick. Hier offenbarte sich ein außergewöhnlicher Sinn für Geschichte, der in England in allen Lebensbereichen allgegenwärtig ist. So schrieb das Standardwerk über Hitler kein Deutscher, sondern ein Engländer, der Historiker Ian Kershaw.
Im Ausland wird die enthusiastische Beschäftigung mit der Geschichte gerne mit einem versteckten Lächeln als noch so eine englische Exzentrik abgetan. In Wirklichkeit steckt dahinter, wie bei den Vogelbeobachtern, oft ein tiefgründiges Interesse an den Dingen. Was wüssten wir über die Entwicklung der Afrikanischen Zibetkatzen oder den Geruchssinn des indonesischen Komododrachen ohne die BBC -Tierfilme?
Im Sport begegnete ich der beeindruckenden Kenntnis der Historie und auch einem ehrlichen, profunden Respekt vor geschichtlichen Taten immer wieder. Boris Becker etwa bleibt in London für immer der Junge, der mit 17 Wimbledon gewann. Jeden Sommer wieder kehrt er zu den Offenen Englischen Tennismeisterschaften zurück und wird als Kommentator in der BBC oder Kolumnist der Zeitungen als lebende Geschichte gefeiert. In Deutschland dagegen war Becker irgendwann nur noch der Mann, der in der Besenkammer Sex hatte.
Uns hat trotzdem niemand für Arsenal-Spieler gehalten – auch wenn wir Arsenal-Jacken trugen; mit Sebi Svärd in der U-Bahn.
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Neun Der mutierte Traum
Von meinem Sommerbesuch in Bürbach kehrte ich auch im vierten Jahr wie ein Handelsvertreter für Kinderschokolade zurück. Ich hatte sie kiloweise im Gepäck.
Es war nicht so, dass ich der englischen Schokolade misstraute. Alles, was süß war, war gut genug für mich. Doch der Anblick der Schokolade im Bürbacher Supermarkt hatte Erinnerungen an meine Kindheit geweckt, und in einem Anfall von Nostalgie packte ich zur Rückfahrt nach London einen Vorrat ins Auto, der für entbehrungsreiche Kriegsjahre gereicht hätte. Monate später würde ich dann wie jedes Jahr aufs Neue überrascht stapelweise verfallene deutsche Schokolade in der Vorratskammer in Enfield finden.
Während ich im Sommer 2003 in meinem persönlichen Schokoladenbomber über belgische Autobahnen fuhr, hatte ich Zeit nachzudenken. Je näher ich London kam, desto klarer sah ich meine Zukunft: Um bei Arsenal zu triumphieren, musste ich Arsenal erst einmal verlassen.
Der FC Fulham, ein kleinerer Londoner Premier-League-Verein, wollte mich für ein halbes Jahr ausleihen.
Im Frühling hatte ich bereits zwei Monate als Leihspieler beim FC Wimbledon in der zweiten Liga ausgeholfen. Diese Art Praktika sind in England für die jungen Spieler der großen Klubs alltäglich. Wenn sie schon zu weit für die Reservemannschaft sind, aber in der ersten Elf noch keinen Platz finden, schickt man sie kurzzeitig in die Diaspora des Profifußballs, um Spielpraxis zu sammeln. So gewann zum Beispiel der Drittligist Preston North End im Jahr 1995 für fünf Spiele die Dienste eines 20-jährigen Jungen von Manchester United. Nachdem er einen Eckball direkt ins Tor gezirkelt hatte, fragte so mancher, wie heißt der denn noch mal? David Beckham hieß er.
Mit Edwin van der Sar, meinem Zimmergenossen bei Auswärtsfahrten mit Fulham, der auch von der Schokolade profitierte, die Anneke mir immer in die Tasche legte.
Oft werden die Ausleihgeschäfte äußerst kurzfristig anberaumt. Als Thomas Hitzlsperger mit 19 von seinem Klub Aston Villa für einige Wochen in die dritte Liga geschickt wurde, sollte er sich am ersten Tag an eine Autobahntankstelle stellen. Dort würde ihn sein Leihteam Chesterfield aufgabeln. Er stieg in den Mannschaftsbus, kannte niemanden, und die Fahrt ging direkt zu seinem ersten Spiel in Blackpool.
Mir hatten die Monate in Wimbledon gefallen. Der Atem in der zweiten Liga war rauer, die Sportlernahrung bestand aus Pappsandwichs mit Gurke, im Duschraum
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