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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Volz
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Schlaf zu rauben. Nach dem Match musste Deutschlands Mittelfeldspieler Didi Hamann, im Dienst des FC Liverpool, des Öfteren für die Fans seines Klubs auf
Ich war beim 1:5 dabei-
T-Shirts unterschreiben.
    Nach dem 1:5 von München nahm plötzlich auch Deutschland die Rivalität mit den Engländern mit Leidenschaft auf. Es braucht offenbar traumatische oder zumindest bittere Niederlagen, um in die Stimmung für eine ordentliche Fußball-Hassliebe zu kommen. Ich erkannte allerdings noch einen Grund für das aufflammende Interesse der Deutschen, sich nun ihrerseits an den Engländern zu reiben: Der
banter
, der brachiale Witz, wurde auch auf dem Kontinent immer populärer und inspirierte Serien wie
Stromberg
, die von diesem Humor lebten. So machte es auch immer mehr Deutschen Spaß, sich mit den Engländern beim Fußball zu necken. Als Deutschland 2007 ein Freundschaftsspiel gewann, schmetterten deutsche Fans den Engländern auf einmal ihre eigenen Gesänge entgegen («You only sing when you are winning»). Und als eine Londoner Stadtbehörde im Internet über den Namen für die Brücke zum neuen Wembleystadion abstimmen ließ, musste das Ergebnis des Referendums schließlich galant übergangen werden. Denn gewonnen hatte der Vorschlag «Didi-Hamann-Brücke». Deutsche Fans hatten die Umfrage unterwandert und dem Spieler, der das Tor zu Englands letzter Niederlage im alten Wembley erzielt hatte, die meisten Stimmen eingetragen.
    Im nächsten Moment schieße ich das 1:0 im Spiel gegen England bei der U-19-Europameisterschaft. Der Engländer neben mir, Glen Johnson, spielte später für Chelsea und Liverpool in der Premier League.
    Ich allerdings war ganz unironisch einfach nur froh, dass ich am Tag des 1:5 mit der deutschen Juniorennationalelf auf Reisen war und erst neun Tage nach der Niederlage nach London zurückkehrte. Neun Tage im Fußball sind länger als ein Jahr; es lagen schon wieder so viele andere Spiele dazwischen. Niemand bei Arsenal schien sich mehr an das 1:5 zu erinnern; jedenfalls, und das war das Wichtigste, erinnerte mich niemand mehr an das Ergebnis.
     
    Ich wurde erst in England wirklich ein Deutscher. Denn nur in der Fremde wird man permanent an seine Nationalität erinnert, wird man ständig automatisch nach seiner Staatsangehörigkeit pauschal klassifiziert: Ah, ein Deutscher.
    Von daher war es merkwürdig, als ich bei der Weltmeisterschaft 2010 zum ersten Mal ein Spiel Deutschland gegen England unter lauter Deutschen statt allein unter Engländern schaute. Ich war nach elf Jahren gerade zurückgekehrt. Mit 40000 anderen stand ich vor einer Großbildleinwand auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg. Aber innerlich stand ich noch immer zwischen beiden Ländern. Der
banter
mit den englischen Freunden lief nun über SMS -Nachrichten.
    «Heute seid ihr deutschen Tennissocken-zu-Sandalen-Träger dran», schrieb Patch von der Pressestelle des FC Fulham.
    «Heute wird es wieder 1966!», schrieb Rob, der Arsenal-Koch.
    Seit England 1966 zum ersten und einzigen Mal Weltmeister wurde, laufen die Auftritte ihrer Nationalelf immer nach demselben Muster ab. Vor der WM sind die englischen Spieler immer die Größten. Die ganze Nation ist eine Boulevardzeitung geworden, eine Boulevardnation gewissermaßen.
Diesmal aber
, ist das Gefühl – das Pflichtgefühl.
Diesmal
gewinnen wir. Und beim kleinsten Rückschlag kippt der Hype direkt in negative Hysterie um. Nachdem Miroslav Klose Deutschland nach 20 Spielminuten 1:0 in Führung gebracht hatte, lasen sich die SMS -Nachrichten aus London radikal anders:
    «Wir sind Müll.»
    «Ich schaue mir England nie mehr an.»
    «Wir werden nie irgendetwas gewinnen. Nie.»
    Es wurden 90 Minuten mit großem Heimweh nach London: Wie gerne wäre ich dort gewesen, wie viel hätte ich dafür gegeben, die Gesichter zu sehen, die Stimmen und vor allem die Sprachlosigkeit zu hören in 90 Spielminuten, in denen jahrzehntelange Gewissheiten einstürzten. Das konnten doch nicht die Deutschen sein, die grimmigen Roboter? Leichtfüßig, geradezu anmutig deklassierte die deutsche Elf England mit 4:1. Woran sollte man als Engländer jetzt noch glauben in der Welt, wenn die Deutschen auf einmal die Inkarnation der Eleganz waren?
     
    Nach elf Jahren in London bin ich mir sicher: Die Engländer mögen die Deutschen. Manche Dinge an uns erscheinen ihnen merkwürdig, unser Mangel an Selbstironie, unser schamloser Ehrgeiz, unsere Vorliebe für Stonewashed-Jeans. Aber darüber kann man

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