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Unser Mann in London

Unser Mann in London

Titel: Unser Mann in London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Volz
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als dort – oder an Wintertagen im Pelham am knisternden Kamin – zu sitzen und dem Regen zuzuhören. Die Druckerschwärze der Zeitungen an den Fingern gehörte unverzichtbar dazu. Die Sonntagszeitungen selbst, dick wie Bücher, schienen für den Fünf-Uhr-Tee gemacht: eine Einladung, stundenlang sitzen zu bleiben.
    Glücklich und träge saß ich im Wolseley und hörte Rachel und Keith zu. Sie stritten darüber, ob man zuerst die Sahne oder zuerst die Marmelade auf die Scones streichen musste. In viele Dingen waren sie ein demonstrativ englisches Ehepaar der höheren Mittelklasse. Etliche Dinge
musste
man in ihren Augen einfach machen, zum Beispiel die
Daily Mail
lesen und leider auch mit 40 aus London aufs Land ziehen, weshalb wir sie kaum noch sahen.
    Als ich das nächste Mal ohne sie zum Fünf-Uhr-Tee ging, probierte ich beide Scones-Varianten aus. Praktischer war es zweifellos, zuerst die Marmelade, dann die
clotted cream
auf den Scone zu streichen, denn dann lief die Marmelade nicht vom Sahneberg herunter, und es gab keine Sauerei. Ich entschied allerdings schnell, dass nur die Zuerst-die-Sahne-dann-die-Marmelade-Taktik die einzig wahre sein konnte, denn auf diese Art konnte man viel mehr
clotted cream
auf einen Scone aufladen.
     
    Wenn die Öffentlichkeit an Profifußballer denkt, hat sie schnell andere Annehmlichkeiten als den Genuss von Sahne vor Augen. Potente Autos oder Diamantenohrringe gelten als Statussymbole unseres Berufszweigs, und schon bald bemerkte ich fasziniert, dass gerade die Jungprofis und die Spieler in den unterklassigen Ligen, die sich angesichts ihrer Gehälter solchen Luxus nicht leisten sollten, dieses Bild vom neureichen Fußballer mit besonderem Eifer pflegten. Als ob sie ihrem Traum vom Erstligaspieler dadurch näher kämen, indem sie teure Autos und Klamotten kauften. Der wahre Luxus, den ich durch meinen Sprung in die Premier League gewann, war der geregelte Tagesablauf eines grauen Beamten.
    Als Jungprofi bei Arsenal hatte ich im ständigen Bereitschaftsdienst gelebt. Ich wusste am Anfang einer Woche oft nicht, mit welchem Team ich wann trainieren würde. Von der Jugendmannschaft über die Reserveelf zum Erstligateam wurde ich hin und her geschoben, manchmal erfuhr ich am Dienstag, dass ich mittwochabends mit der Reserve spielen sollte, gelegentlich kam ich donnerstagmorgens zum Training und hörte, dass ich nachmittags auch noch eine Einheit einschieben sollte. So ließ sich kaum Zeit für andere Dinge einplanen.
    In Fulham dagegen lagen die Wochen plötzlich sauber geordnet vor mir. Mittwochs frei, ansonsten jeden Vormittag Training, anschließend Mittagessen in der Klubkantine und den Rest des Tages zur freien Verfügung.
    Ich begann mit dem Biologieunterricht, dem letzten Fach für meine A-levels. Französisch und Mathe hatte ich schließlich bestanden, nachdem ich meine Lehrbücher durch mehrere Sommerurlaube geschleppt und nie reingeschaut hatte.
    Endlich nicht mehr die weite Fahrt zum Training. Carlos, Simon und Beckett weihen mit uns unsere neue Wohnung in Fulham ein.
    «Ich wette, du wirst das Abitur 2010 machen», sagte Anneke ungefähr 2001.
    Biologie interessierte mich, weil ich mich als Sportler ständig zwangsweise mit dem menschlichen Körper beschäftigte; wenn wieder mal ein Körperteil schmerzte, von dessen Existenz ich keine Ahnung gehabt hatte. Ich lernte an der Privatschule in Kensington alles über den menschlichen Blutkreislauf, die Mendel’schen Regeln der Vererbung und Darwins Evolutionstheorie. Bloß stieß ich immer wieder an den Punkt, an dem ich dachte: So genau will ich es doch eigentlich gar nicht wissen.
    Mein Ehrgeiz und meine Trägheit befanden sich in der Schule im ständigen Kampf miteinander. Ich absolvierte Prüfungen unvorbereitet und wiederholte sie dann einen Sommer später noch einmal, weil ich mit der Note unzufrieden war. So zog sich meine Schulzeit in London. Als ich an der Schule unter all den jugendlichen Abituranwärtern endlich einmal ein Mädchen sah, das so alt wie ich aussah, sprach ich sie an. Es stellte sich heraus, dass sie 23 war, ein Jahr jünger als ich. Und Lehrerin.
     
    Nach einer vollen Saison in der Premier League war ich längst in Fulham angekommen, hatte mich aber noch immer nicht ganz von meiner Vergangenheit bei Arsenal gelöst. Ich wohnte weiterhin in Enfield. Zu Fulhams Trainingszentrum Motspur Park musste ich von Norden nach Süden einmal durch die ganze Stadt, 30 Kilometer Luftlinie. Was sich bei Londons

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