Unser Mann in London
umrühren. Stopp! Niemals die Milch in den Tee schütten, sondern immer zuerst die Milch in die Tasse, dann den Tee.
Ich nahm Tee-Anschauungsunterricht: Als meine Eltern das nächste Mal zu Besuch kamen, ging ich mit meiner Mutter zum berühmten
afternoon tea
ins Hotel Ritz. Schon König Edward VI ., Winston Churchill und Charles de Gaulle hatten hier Tee getrunken. Mich bat der Empfangskellner erst einmal diskret in einen Nebenraum. Ich trug keine Krawatte, das ginge so nicht. Er reichte mir eine rot-grün karierte, die eine interessante Kombination mit meinem hellblauen Hemd abgab.
Der Teesaal öffnete sich weit, rund und plötzlich am Ende des langen Korridors. Es hingen so viele Kronleuchter in dem Raum, dass die Decke einst verstärkt werden musste. Schwere goldene Vorhänge, Fresken und eine Statue nackter Götter sorgten dafür, dass niemand vergaß, wo er war: im guten, alten England des Pomp und der Etikette. Zwei Palmen als Spalier am Eingang stellten den Versuch dar, an den Namen des Saals,
Palm Court
, zu erinnern. Das Publikum bestand aus einer exzentrischen Mischung von Londonern, die in Ehren gealtert waren, sowie Touristen und Schaulustigen, die wie ich leicht an ihren farblich wirren Leihkrawatten zu erkennen waren. Die älteren Londoner hingegen sahen alle so aus, als würden sie den anstehenden Gardineneinkauf besprechen.
Ich versuchte, mich mit meiner Mutter normal zu unterhalten, aber es fiel uns nicht leicht. Es war zu ruhig. Obwohl der Saal gut besucht war und man sich an jedem Tisch unterhielt, hörte man von den Gästen allenfalls gedämpfte Stimmen. Wenn man sich wie ein Statist in einer Inszenierung fühlt, fehlt einem ein bisschen die Natürlichkeit. Zumal ich glaubte, neben mir eine unsichtbare Uhr ticken zu hören. Man hatte den Tisch nur für exakt zwei Stunden. Danach kam die nächste Schicht.
Aber jetzt servierte uns der Kellner erst einmal den Tee. Ich sah genau hin. Er goss zuerst bedächtig den
English afternoon blend
aus Darjeeling-, Assam- und Ceylon-Tee aus der silbernen Teekanne und fragte mich dann, ob ich ein klein wenig Milch dazu bevorzuge. «Viel Milch», konnte ich hier vermutlich nicht sagen. Der Kellner tröpfelte die Milch in die Tasse.
Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass das Gebot, Tee mit Milch zu trinken, keineswegs einem höheren englischen Geschmackssinn geschuldet war, sondern einer typischen Boulevardzeitungshysterie. Vor vielen Jahrzehnten ging im Empire die These um, schwarzer Tee sei der Gesundheit abträglich. Um ihn ein wenig gesünder zu machen, wurde Milch hinzugeschüttet. Ein Jahrhundert später diskutieren die Briten immer noch: Milch hinzuzufügen, raube dem Tee seinen vor Herzinfarkt schützenden Effekt, meldete alarmiert die
BBC
im Jahr 2007. Die Universität von Aberdeen führte postwendend eine Gegenstudie durch: Freiwillige mussten Tee mit und ohne Milch trinken. Der stressmildernde Einfluss auf den Körper sei in beiden Fällen gleich hoch, verkündete die Universität. Ich stellte mir vor, wie die erleichterte Zustimmung in Form eines kollektiven Befreiungsschreis im ganzen Land zu hören war.
Für mich war die größte Attraktion beim Teetrinken das Essen. Ich war schon immer ein Sahne-und-Butter-Junge, und die warmen Scones, die im Ritz mit
clotted cream
– einer Art festen, cremigen Sahne – und Marmelade zum Tee gereicht wurden, waren eine Offenbarung. Ich aß sie ohne Rücksicht auf anständiges Benehmen oder den guten Brauch, beim Essen immer ein wenig übrig zu lassen.
Nach exakt einer Stunde fragte der Kellner, ob wir noch etwas wünschten, und wir verstanden die Frage sehr gut. Was er eigentlich sagte, war: Höchste Zeit, dass Sie gehen.
Ich sprang nicht auf und nieder vor Begeisterung über den steifen Nachmittag im Ritz, aber der Fünf-Uhr-Tee wurde mein absolutes Lieblingsgericht. Diese Scones mit
clotted cream
konnten ein Abendessen ersetzen. Denn konnte man nicht auch
clotted cream
mit Scones essen?
Es würden einige Monate vergehen, aber dann entdeckten Anneke und ich dank unserer Nachbarn Rachel und Keith, dass der
five o’clock tea
in anderen Londoner Hotels noch mit der ursprünglichen, gelassenen Feierlichkeit serviert wurde. The Wolseley, Pelham Hotel und Haymarket Hotel wurden unser Revier. Das Ambiente im Teesaal des Haymarket war nicht so beengend wie im Ritz, der Boden aus Parkett statt schweren Teppichen, aber die tiefen Sessel noch immer verspielt britisch, bunt bedruckt. Es gab nichts Besseres
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