Unser sechzehntes Jahr (German Edition)
Liegestühle. In der Hand eine Eistüte, die sie scheinbar zu lange in die Sonne gehalten hat. Lachend zeigt sie auf die Tropfen von flüssig gewordenem Schokoladen-Eis auf ihren Fingern. Ihr Haar ist ebenso dunkel wie das von Nathalie und ihrer Mutter und zu einem seitlichen Zopf geflochten. Auf dem Kopf sitzt ein rot-weißes Basecap.
Ihr Lachen ist beinahe zu hören. Ihre Augen scheinen Nathalies Blick zu erwidern. Ein seltsames Gefühl durchfährt sie. Das Bild einer Fremden. Und doch ein Mensch, dessen Wurzeln dieselben wie ihre sind.
Sie sieht älter aus als auf dem Bild im Wohnzimmer. War es womöglich sogar der Sommer vor dem schrecklichen Ereignis?
Mit den Fingern auf dem Bild verharrt Nathalie regungslos auf ihrem Platz. Sie versucht sich vorzustellen, wie sie gewesen sein muss. Fiona. Und ihre Eltern vor diesem schrecklichen Verlust.
Der Versuch, anhand eines Bildes Teil zu werden. Teil einer Vergangenheit, die nichts mit Nathalie zu tun hat und doch mehr als alles andere. Teil einer Familie, die ihre ist und deren Geschichte dennoch in zwei Etappen unterteilt zu sein scheint.
Es fällt ihr schwer, ihre Gedanken zu sortieren. Einerseits ist sie neugierig, mehr über diese erste Etappe zu erfahren. Gleichzeitig fühlt sie sich aussätzig. Ist dieser kleine Ausschnitt, das Bild ihrer Mutter, das Bild von Fiona, wirklich ihre Familie? Noch immer? Trotz der vielen Jahre, die zwischen den Bildern und der Gegenwart liegen? Trennt das Ereignis die erste und zweite Etappe voneinander und somit Nathalie von einem Abschnitt im Leben ihrer Familie?
Unweigerlich erwidert sie das Lächeln von Fiona. Ein Lächeln, das auf einem Foto gefangen ist und dennoch so nah scheint. So real.
"Ich habe es seit Jahren nicht in der Hand gehabt."
Sie hebt den Kopf. Die Stimme ihres Vaters hätte sie als letztes erwartet. Schon wieder ist er zeitig von der Arbeit heimgekommen. Gestern hatte sie sein Auto doch auch schon früher als sonst in der Auffahrt gesehen. Eine neue Routine? Und warum hat sie ihn nicht kommen hören, geschweige denn das Auto?
"Papa", entfährt es ihr überrascht. "Bist du schon lange da?"
Er schließt die Tür, die das Haus mit der Garage verbindet. "Bin gerade gekommen."
Sie fühlt sich ertappt und möchte aufstehen, doch er macht eine Handbewegung, während er näher kommt. Sie lehnt sich wieder zurück. Es gibt keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Es ist ein Fotoalbum. Nur ein Fotoalbum. Sie hat ein Recht, darin zu blättern.
Er setzt sich zu ihr. "Das ist dir wirklich wichtig, oder? Erst Fionas Tagebuch, jetzt die Alben."
Sie schweigt. Eine Antwort ist überflüssig.
"Ich habe oft darüber nachgedacht, die Alben wieder ins Haus zurück zu holen, aber es war sehr schwer für deine Mutter, ihnen immer wieder zu begegnen. Allein beim Öffnen einer Schublade Erinnerungen wachzurufen, die zu schmerzhaft sind." Er legt die Hand auf Nathalies Schulter. "Jeder hat eine andere Art, damit umzugehen, weißt du?"
Sie nickt. "Mama ist sehr empfindlich, was das Thema angeht, oder?"
"Das sind wir beide. Aber sie hat eben..."
"Eine andere Art, damit umzugehen", wiederholt sie seine Worte.
Er lächelt. Sie glaubt , Verständnis in seinem Lächeln zu erkennen.
"Wir könnten versuchen, sie wieder ins Haus zu holen", sagt sie. "Die Bilder, meine ich."
"Ich bin mir nicht sicher."
"Sie sind ein Teil unserer Familie und ich finde, sie gehören ins Haus. Mama fällt es doch inzwischen auch leichter, darüber zu reden. Warum nicht auch die Alben reinholen? Bestimmt kriegt sie das hin. Ich meine, damit klarzukommen. Meinst du nicht auch?"
Er zieht das Album zu sich herüber. Sein Blick fällt auf das Bild von Fiona. Für einen Moment schweigt er, dann beginnt er zu reden. "Die Frage ist nicht nur, ob es für deine Mutter leicht ist. Diese Frage gilt für uns alle, Nathalie."
"Ich weiß."
Eine Weile schaut er auf das Bild. Dann wandert sein Blick zurück zu Nathalie. Etwas anderes scheint ihn zu bedrücken.
"Nathalie", sagt er.
"Was ist?"
"Dieser Mann, den du aufgesucht hast. Hast du noch in irgendeiner Form Kontakt zu ihm?"
"Nein." Seine Frage überrascht sie. "Ich war nur bei zwei Auftritten seiner Band. Hab ich doch schon gesagt."
"Ich weiß, aber..."
"Der Typ interessiert mich doch überhaupt nicht, Papa."
"Wir machen uns Sorgen. Ich meine, du bist einfach ohne unser Wissen zu ihm gegangen."
Sich Sorgen machen. Das tun sie immer. Wann begreifen sie endlich, dass sie nicht beschützt werden
Weitere Kostenlose Bücher