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Unser Spiel

Unser Spiel

Titel: Unser Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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einem eiskalten Viehwaggon unterwegs zu den eisigen Steppen von Kasachstan.
    … weißt du, was am 23. Februar 1944 passiert ist, als ich geboren wurde und jedermann einen schönen Nationalfeiertag feierte und russische Soldaten auf Befehl in unseren Dörfern tanzten und Feste veranstalteten? Ich sage es dir. Die Völker der Inguschen und Tschetschenen wurden durch ein Edikt Josef Stalins pauschal zu Verbrechern erklärt und Tausende von Kilometern weit von ihren fruchtbaren kaukasischen Ebenen wegtransportiert und in das öde Gebiet nördlich des Aralsees umgesiedelt …
     
    Ich überschlug ein paar Seiten und las gierig weiter:
     
    Bereits im Oktober 43 hatten die Stalinisten die Karatschaier deportiert. Im März 44 waren die Balkaren an der Reihe. Und im Februar holten sie die Tschetschenen und Inguschen … persönlich, verstehst du? Beria und seine Bevollmächtigten kamen persönlich, um unsere Umsiedlung zu überwachen … als ob man einen Mann aus Kalifornien in die Antarktis umsiedeln würde, so hat man uns umgesiedelt …
     
    Ich überschlug eine halbe Seite: TTs trockener Humor begann sich trotz des banalen Stils der Abschreiber immer mehr durchzusetzen.
     
    … die Alten und Kranken brauchten die Reise nicht mitzumachen. Man trieb sie in einem netten Gebäude zusammen und steckte es in Brand, damit sie es schön warm hatten.
    Dann wurde das Gebäude mit Maschinengewehren beschossen. Mein Vater hatte etwas mehr Glück. Stalins Soldaten verpaßten ihm einen Genickschuß, weil er nicht wollte, daß seine schwangere Frau in den Zug stieg … Als meine Mutter die Leiche meines Vaters sah, fühlte sie sich so allein, daß sie mich zur Welt brachte. Der Sohn der Witwe wurde in dem Viehwaggon geboren, der ihn in die Verbannung brachte …
     
    Hier notieren die Abschreiber auf ihre pedantische Art eine naturbedingte Unterbrechung: TT geht auf die Toilette, und Larry füllt die Gläser wieder nach.
     
    … wer die Fahrt überlebt hatte, mußte in einem Gulag arbeiten: die eisigen Steppen bepflanzen, sechzehn Stunden am Tag Gold schürfen, weshalb die Inguschen bis heute mit Gold handeln … Sie wurden wegen ihrer angeblichen Kollaboration mit den Deutschen als Sklavenarbeiter eingestuft, dabei haben die Inguschen durchaus gegen die Deutschen gekämpft, aber Stalin und die Russen haben die Inguschen einfach noch mehr gehaßt …
     
    »Und sie haben die Osseten gehaßt«, sagt Larry heftig wie ein Schuljunge, der Primus werden möchte.
    Damit hat er, vielleicht absichtlich, an einen wunden Punkt gerührt, denn jetzt gerät TT in Rage.
     
    Warum sollten wir die Osseten nicht hassen? Sie stammen nicht aus unserem Land! Sie sind nicht von unserem Blut! Sie sind Perser, die sich als Christen ausgeben und heimlich heidnische Götter verehren. Sie sind die Lakaien Moskaus. Sie haben unsere Äcker und Häuser gestohlen. Warum? Weißt du, warum?
     
    Larry stellt sich unwissend.
     
    Weißt du, warum Stalin uns deportiert und uns als Verbrecher und Feinde des Sowjetvolks bezeichnet hat? Weil Stalin Ossete war! Kein Georgier, kein Abchasier, kein Armenier, kein Aserbeidschaner, kein Tschetschene und kein Ingusche – weiß Gott, kein Ingusche –, sondern ein Ausländer, ein Ossete. Liebst du den Dichter Osip Mandelstam?
     
    Mitgerissen von TTs leidenschaftlichem Ausbruch, gesteht Larry seine Liebe zu Mandelstam.
     
    Weißt du, warum Stalin den Dichter Mandelstam hat erschießen lassen? Weil er in einem seiner Gedichte geschrieben hat, daß Josef Stalin ein Ossete ist! Deswegen ist Mandelstam von Stalin erschossen worden!
     
    Ich bezweifelte, daß dies der Grund für Mandelstams Erschießung war. Ich war der Ansicht, und die war besser bezeugt, daß er in einer psychiatrischen Klinik gestorben war. Und ich bezweifelte, daß Stalin wirklich Ossete war. Und Larry bezweifelte es vielleicht auch, doch angesichts solcher Inbrunst verzeichnet das Protokoll als Reaktion nur ein Stöhnen, gefolgt von einem langen Schweigen, während die beiden Männer trinken. Schließlich fährt TT in seiner Erzählung fort. Stalin ist 1953 gestorben. Drei Jahre später hat Chruschtschow ihn an den Pranger gestellt, und kurz darauf erhielt die Autonome Tschetschenisch-Inguschische Republik ihren rechtmäßigen Platz auf den Landkarten:
     
    Wir kommen aus Kasachstan nach Hause. Das ist ein weiter Weg, aber wir schaffen es, auch wenn einige von uns ein wenig zu spät ankommen. Meine Mutter stirbt unterwegs, und ich schwöre ihr, daß ich

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