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Unser Spiel

Unser Spiel

Titel: Unser Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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May! Komm raus! Wo steckst du!« Dabei war mir durchaus bewußt, daß ich eigentlich noch immer »Larry!« und »Emma!« rufen sollte, aber ich hatte panische Angst, die beiden zu finden, und deshalb hielt ich auch die linke Hand hoch, um den Anblick abzuwehren, den ich am meisten fürchtete.
    Ich trug gute braune Landschuhe, die ich bei Ducker in Oxford gekauft hatte, handgearbeitet und mit Gummisohlen, aber nicht sehr elastisch. Als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich auf dem staubigen Parkettboden eine Spur klebriger Fußabdrücke, die, während die Herkunft des Bluts noch immer ein Rätsel war, zweifellos von mir selbst stammten. Ich schassierte an einer geschlossenen Tür vorbei, an noch einer, und rief: »Hallo, hallo, ist da jemand?« Und dann gebieterisch, so laut ich konnte: »May! Aitken May!« Aber diesen Ausbrüchen folgte ein Schweigen, das unheimlicher war, als jede Antwort hätte sein können, und ich fürchte, ich habe mir dies als das Schweigen des Waldes vorgestellt.
    Ich kam an einem weiteren Fenster vorbei, sah grasende weiße Kühe, Moorland und die Brücke, und fühlte mich dankbar wieder mit der Natur verbunden. Eine dritte geschlossene Tür, aber ich ging weiter, entschlossen, meine Erkundung am Vordereingang zu beginnen und nicht per Axt durch die Hintertür. Außerdem bin ich Rechtshänder, und wenn ich mich schon wie ein in die Jahre gekommener Elitesoldat aufführen mußte, behielt ich lieber den Revolver in der rechten Hand und attackierte die Türen links von mir. Im Ausbildungslager oder im Kino mögen sie das anders machen, aber in meinem Alter war es so am natürlichsten, und es kam überhaupt nicht in Frage, daß ich die Waffe mit beiden Händen packte.
    Mein Alter machte mir jetzt ganz besonders zu schaffen, so wie es mir jedesmal zu schaffen machte, wenn ich mit Emma ins Bett ging: Bin ich dem noch gewachsen? Bin ich zu alt für meine Leidenschaften? Würde ein Jüngerer das nicht besser machen? Ich hatte jetzt den Vordereingang erreicht. Ganz ruhig, Cranmer. Gehen, nicht laufen.
    »Jemand hier?« rief ich mit versöhnlicherer Stimme. »Ich bin’s, Cranmer. Tim Cranmer. Ich bin ein Freund von Sally und Terry.«
    Polsterstühle. Ein Kaffeetisch, ein Stapel zerlesener Zeitschriften aus der Teppich- und Antiquitätenbranche. Ein Bord mit Haustelefonanlage und Anrufbeantworter: der noch immer funktionierende Anrufbeantworter. Im Schirmständer trocknete ein Damenschirm, der längst trocken war. Hatte es an dem Tag geregnet? An welchem Tag? Denk an die Fußabdrücke im Schlamm vor der Hintertür.
    An der Wand orientalische Stickereien und ein Poster: Düsenjäger im Tiefflug über der Wüste. Auf dem Tisch drei benutzte Teetassen und ein Aschenbecher in Form eines kleinen Autoreifens, der von filterlosen Zigarettenkippen überquoll. Die Teereste tiefdunkel, weder Milch noch Zucker. Russischer Tee? Der wäre süß gewesen. Orientalischer Tee? Der wäre dünn gewesen. Also vielleicht Tee aus dem weiten Grenzgebiet dazwischen. Und russische Zigaretten, wie die von Larry.
    Ich wollte mir die erste Tür vornehmen, blieb aber noch einmal stehen und horchte auf Schritte, auf ein Auto, das sich dem Haus näherte, auf das Klopfen des Briefträgers an der Vordertür und ein fröhliches »Jemand zu Hause?«. Auf dem Land ist es niemals still, das wußte ich, aber ich hörte nichts, was meine Beunruhigung vermehrt hätte. Ohne erst zu probieren, drückte ich die Klinke und stieß die Tür, so fest und schnell wie ich konnte, auf. Ich sprang hinterher und hoffte verzweifelt, auf diese Weise jeden, der dort drin sein mochte, zu überraschen, falls er nicht tot war.
    Aber die Überraschung hatte bereits stattgefunden, denn das Zimmer war systematisch verwüstet. Schreibtischschubladen waren ausgekippt und zertrampelt worden. Fax- und Kopiergeräte zu unkenntlichen Klumpen zerschlagen. Der Schreibtischstuhl so zerschlitzt, daß ihm die Eingeweide heraushingen. Aktenschränke vornübergekippt und halb zertrümmert. Die Vorhänge von heftigen Messerstößen zerfetzt. Selbst das Geschlecht des fehlenden Bewohners dieses Zimmers blieb ein Rätsel, bis meine Untersuchungen allmählich ergaben, daß es eine Frau gewesen mußte: Kunstlederfetzen einer Schultertasche, ganz und gar nicht Emmas Geschmack; ein zerknülltes Papiertuch, mit nichts Schlimmerem befleckt als einem billigen Lippenstift, den Emma niemals benutzt hätte; der Lippenstift selbst platt getreten; Gesichtspuder, verstreut wie

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