Unser Spiel
nach, schloß mich feierlich in die Arme, sah mir fest in die Augen und murmelte etwas, das ich nicht verstand, von dem ich aber fürchtete, es sei ein Gebet um meine Sicherheit.
»Magomed ist der Meisterringer von ganz Inguschien«, sagte der ältere Muride stolz. »Er ist ein großer Sufist und Doktor der Philosophie. Er ist ein großer Krieger und religiöser Führer. Er hat viele Russen getötet. Man hat ihn im Gefängnis gefoltert, und als er herauskam, konnte er nicht gehen. Jetzt hat er die kräftigsten Beine im ganzen Kaukasus.«
»Ist Magomed euer religiöser Führer?« fragte ich.
»Nein.«
»Und Bashir Haji?«
Ich hatte mich auf verbotenes Terrain gewagt. Sie verstummten und zogen sich dann in ihren Verschlag auf der anderen Seite des Flurs zurück. Danach trat tiefe Stille ein, die nur von gelegentlichem Murmeln unterbrochen wurde. Ich nahm an, daß die Söhne der Märtyrer ihr Gebet verrichteten.
* **
Issa tauchte auf, er trug eine nagelneue unförmige Lederjacke, die stark glänzte und ihn übergroß erscheinen ließ; er hatte meinen Koffer und die Aktentasche aus dem Hotel dabei und wurde von zwei seiner Bewaffneten begleitet. Wie Magomed war er unrasiert und machte einen gequälten, ernsten Eindruck.
»Haben Sie Beschwerden vorzubringen?« fragte er und drang so grimmig auf mich ein, daß ich glaubte, er werde mich wieder schlagen.
»Ich werde mit Ehrerbietung und Respekt behandelt«, erwiderte ich nicht weniger aggressiv.
Doch anstatt mich zu schlagen, nahm er meine Hand, zog mich an sich, genau wie Magomed es getan hatte, und klopfte mir vertraulich auf die Schulter.
»Wann komme ich hier raus?« fragte ich.
»Wir werden sehen. Morgen, in drei Tagen. Kommt darauf an.«
»Auf was? Worauf warten wir denn?« Die Gespräche mit den Muriden hatten mich kühn gemacht. »Ich habe keinen Streit mit Ihnen. Ich habe keine bösen Absichten. Ich bin mit ehrenwerten Motiven hierhergekommen, ich will meinen Freund besuchen.«
Seine finstere Miene verunsicherte mich. Sein Stoppelbart und sein gehetzter Blick verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der entsetzliche Dinge erlebt hatte. Aber er gab mir keine Antwort. Statt dessen machte er auf dem Absatz kehrt und ging, seine Kämpfer folgten ihm. Ich öffnete meinen Koffer. Aitken Mays Papiere fehlten, ebenso Emmas herausklappbares Adreßbuch. Ich fragte mich, ob Issa meine Hotelrechnung bezahlt hatte und, wenn ja, ob er dazu Bairstows ungültige Kreditkarte benutzt hatte.
***
Ich höre Pettifer über die endlose Einsamkeit des Spions reden. Die eine Hälfte von ihm beklagt sich, die andere Hälfte ist zufrieden. Er vergleicht sein Dasein mit Felsklettern, das er liebt. »Es ist ein verdammt großer Überhang im Dunkeln. Manchmal ist man stolz, so ganz auf sich allein gestellt zu sein. Aber im nächsten Augenblick würde man alles dafür geben, wenn noch ein paar andere mit am Seil hingen. Oder man will plötzlich sein Messer nehmen und das Seil über sich kappen, um ein bißchen Schlaf zu finden.«
* **
Die Tage vergingen, und die unterhaltsamsten – und informativsten – Stunden waren die, die ich im Gespräch mit meinen Muriden verbrachte.
Manchmal, nachdem sie zunächst immer allein gebetet hatten, beteten sie ohne Verlegenheit in meiner Gegenwart. Sie kamen mit ihren Käppchen in meine Zelle, setzten sich abgewandt von mir hin, schlossen die Augen und ließen die Betperlen andächtig durch die Finger gleiten. Ein Muride, erklärten sie, nehme niemals eine Perle in die Hand, ohne den Namen Gottes anzurufen. Und da Gott neunundneunzig Namen habe, gebe es neunundneunzig Perlen, und deshalb gebe es mindestens neunundneunzig Anrufungen. Gewisse sufistische Orden – ihr eigener gehöre dazu – schrieben jedoch vor, daß die Anrufung viele Male zu wiederholen sei. Ein Muride müsse seine Loyalität auf viele verschiedene Weisen unter Beweis stellen, bevor er akzeptiert werde. Die Muriden hätten eine komplizierte und dezentrale Hierarchie. Jedes Dorf sei in mehrere Bezirke aufgeteilt, jeder Bezirk bilde eine geschlossene Einheit, die von einem turgh oder Führer geleitet werde, der wiederum einem thamada unterstellt sei, und der wiederum sei einem vekil oder stellvertretendem Scheich unterstellt … Wenn ich sie so hörte, empfand ich ein gewisses verwandtschaftliches Mitgefühl mit dem bedauernswerten russischen Nachrichtenoffizier, der den unausführbaren Auftrag hatte, ihre Organisation zu infiltrieren. Meine muridischen Wächter
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