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Unser Spiel

Unser Spiel

Titel: Unser Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Dorf gefoltert, dann haben ihn die russischen Soldaten an Händen und Füßen gefesselt und mit einem Panzer überfahren. Als die Leute aus dem Dorf seine Leiche bergen wollten, wurden sie von den russischen Soldaten beschossen.«
    »Mein Vater und meine zwei Brüder sind auch schon bei Gott«, sagte der Junge aus dem Tal leise.
    »Wenn wir sterben, sind wir bereit«, sagte sein Freund mit derselben tonlosen Stimme, mit der er von seinem Vater erzählt hatte. »Wir werden unsere Väter und Brüder und Freunde rächen, und dann sterben wir.«
    »Wir haben geschworen, im gazavat mitzukämpfen«, sagte sein Kamerad nicht minder leidenschaftlich. »Das ist der heilige Krieg, der unsere Heimat von den Russen befreien wird.«
    »Wir müssen unser Volk aus diesem Unrecht retten«, sagte der Junge aus den Bergen. »Wir müssen unser Volk stark und gottesfürchtig machen, damit es nicht den Ungläubigen zum Opfer fällt.« Er stand auf, griff hinter sich, zog einen geschwungenen Dolch und hielt ihn mir hin. »Das ist mein kinjal . Wenn ich keine andere Waffe und keine Munition habe und von Russen umzingelt bin, laufe ich aus meinem Haus und steche den ersten Russen tot, den ich sehe.«
    Es dauerte eine ganze Weile, bis ihre Leidenschaft verraucht war. Aber die Erwähnung der Ungläubigen hatte mir die Chance gegeben, auf die ich den ganzen Abend gewartet hatte.
    »Dürfen die Muriden überhaupt für einen Ungläubigen beten?« fragte ich.
    Der Junge aus dem Tal hielt sich offenkundig für die zuverlässigere Autorität in religiösen Dingen. »Wenn der Ungläubige ein angesehener und tugendhafter Mann ist und wenn dieser Mann unserer Sache dient, wird ein Muride für ihn beten. Ein Muride betet für jeden, der ein Werkzeug Gottes ist.«
    »Könnte ein angesehener und tugendhafter Ungläubiger unter euch leben?« wollte ich wissen und fragte mich insgeheim, was Larry wohl von dieser Beschreibung halten würde.
    »Wenn ein Ungläubiger als Gast in unserem Hause weilt, wird er bashab genannt. Ein bashab ist ein heiliges Gut. Wenn er Schaden erleidet, ist das genauso schlimm, als wenn der Stamm, der ihn beschützen sollte, Schaden erlitten hätte. Der Tod eines bashab kann nur durch Blutfehde gerächt werden, nur so wird die Ehre des Stammes wiederhergestellt.«
    »Lebt zur Zeit ein solcher bashab bei euch?« fragte ich und – während ich auf ihre Antwort wartete – »vielleicht ein Engländer? Ein Mann, der eurer Sache dient und eure Sprache spricht?«
    Einen wunderbaren Augenblick lang glaubte ich wirklich, daß meine geduldige Strategie sich ausgezahlt hatte. Die beiden sahen sich aufgeregt an, ihre Augen funkelten, sie wechselten tuschelnd und atemlos ein paar unverständliche Sätze miteinander, die mir sehr verheißungsvoll schienen. Dann wurde mir langsam klar, daß der Junge aus den Bergen mir nur zu gerne etwas erzählt hätte, sein Freund aus dem Tal ihm jedoch befahl, es für sich behalten.
    In dieser Nacht erschien mir Larry im Traum als ein moderner Lord Jim, als inthronisierter Monarch des ganzen Kaukasus, und Emma als seine leicht verstörte Gemahlin.
    ***
    In der Morgendämmerung, wenn die Henker kommen, holten sie mich. Erst träumte ich sie nur, dann waren sie echt. Magomed, sein hagerer Begleiter und die zwei jungen Männer, die im Nachtclub zugesehen hatten, wie ich geschlagen wurde. Meine Muriden waren verschwunden. Vielleicht hatte man sie nach Nasran zurückgerufen. Vielleicht wollten sie mit dem, was jetzt geschah, nichts zu tun haben. Am Fußende meines Betts lagen eine Pelzmütze und ein kinjal , die mir die beiden dorthin gelegt haben mußten, als ich schlief. Magomeds Stoppeln waren zu einem Vollbart geworden. Er trug eine Nerzmütze.
    »Wir brechen sofort auf, bitte, Mr. Timothy«, verkündete er. »Bitte bereiten Sie sich auf eine unauffällige Abreise vor.«
    Dann machte er sich wie Zeremonienmeister auf meinem Sessel breit – die Antenne eines Handy ragte aus seiner wattierten Weste –, und während er nach verdächtigen Geräuschen im Korridor horchte, sah er zu, wie seine Männer mich beim Packen zur Eile antrieben: den kinjal in den Koffer, die Pelzmütze auf den Kopf.
    Magomeds Handy piepte, er murmelte einen Befehl und gab mir einen Klaps auf die Schulter, als sei ich ein Läufer, den er ins Rennen schickte. Einer der Männer nahm meinen Koffer, ein anderer meine Aktentasche; beide hatten eine Maschinenpistole in der freien Hand. Ich trat nach ihnen auf den Korridor hinaus. Eisige Luft

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