Unser Spiel
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Magomed erschien mit einer Flasche Wodka. Er hatte rote Ränder um die Augen, ein schwarzer Stoppelbart verdunkelte sein rundes Gesicht unter dem Käppchen. Was bedrückte ihn? Oder lächelte er immer so traurig wie jetzt? Er goß den Wodka in Gläser, trank selbst aber nichts. Er erkundigte sich nach meinem Befinden. Ich antwortete: »Mir geht’s glänzend.« Er lächelte vage und wiederholte: »Glänzend.« Wir sprachen in keiner bestimmten Reihenfolge über die Schriftsteller Oscar Wilde, Jack London, Ford Madox Ford und Bulgakow. Er versicherte mir, er komme nur selten dazu, sich zivilisiert zu unterhalten, und fragte mich, ob mir in England solche Gespräche möglich seien.
»Nur mit Larry«, antwortete ich in der Hoffnung, ihn aus der Reserve zu locken.
Doch seine Antwort war nur wieder ein trauriges Lächeln, das Larrys Existenz weder bestätigte noch ableugnete. Er fragte, wie ich mit meinen Muriden auskomme.
»Sind sie höflich?«
»Absolut.«
»Sie sind die Söhne von Märtyrern.« Wieder das traurige Lächeln. »Vielleicht sehen sie in Ihnen ein Werkzeug Gottes.«
»Warum sollten sie das?«
»Nach einer Prophezeiung, an die viele Sufisten seit dem neunzehnten Jahrhundert glauben, als Imam Schamyl an Ihre Königin Victoria Briefe schrieb, wird das russische Reich eines Tages zusammenbrechen und der Nordkaukasus, einschließlich Inguschien und Tschetschenien, unter die Herrschaft des britischen Monarchen geraten.«
Ich nahm diese Information ebenso ernst auf, wie er sie mir mitgeteilt hatte.
»Viele unserer Älteren reden heutzutage von dieser Prophezeiung«, fuhr er fort. »Da der Zusammenbruch des russischen Reiches jetzt eingetreten ist, fragen sie, wann das zweite Zeichen sichtbar wird.«
Glücklicherweise fiel mir jetzt etwas ein, das Larry einmal zu mir gesagt hatte: »Und habe ich nicht gelesen«, sagte ich bedächtig, meine Worte genauso sorgsam abwägend wie er, »daß Königin Victoria dem Imam Schamyl Waffen geliefert hat, um ihm zu helfen, den russischen Unterdrücker zu überwinden?«
»Das ist möglich«, gab Magomed eher gleichgültig zu. »Der Imam Schamyl stammte nicht aus unserem Volk und ist daher nicht der größte unserer Helden.« Er fuhr sich mit der dicken Handfläche erst über die Stirn, dann über den Bart, als wollte er sich von einer unseligen Assoziation befreien. »Es gibt auch die Legende, daß die Gründer der tschetschenischen und inguschischen Nationen von einer Wölfin gesäugt wurden. Diese Geschichte dürfte Ihnen in einem anderen Zusammenhang bekannt sein.«
»Allerdings«, sagte ich und dachte an die Wölfe auf Issas goldenen Manschettenknöpfen.
»Um es konkreter zu sagen, wir waren immer der Ansicht, daß Großbritannien mäßigend auf die Entschlossenheit der Russen, uns zu versklaven, einwirken könnte. Halten Sie das auch nur für einen unserer vergeblichen Träume, oder dürfen wir hoffen, daß Sie bei den Beratungen, von denen wir ausgeschlossen sind, für uns eintreten werden? Ich frage Sie das in allem Ernst, Mr. Timothy.«
Ich hatte keinen Grund, an seinem Ernst zu zweifeln, war aber sehr um eine Antwort verlegen.
»Falls Rußland die Verträge mit seinen Nachbarn gebrochen hat –«, fing ich unbeholfen an.
»Ja?«
»Falls in Nasran jemals Panzer einrücken wie 68 in Prag –«
»Das ist bereits geschehen, Mr. Timothy. Vielleicht haben Sie zu der Zeit geschlafen. Inguschien ist ein Land unter russischer Besatzung. Und hier in Moskau sind wir Ausgestoßene. Man traut uns nicht, man mag uns nicht. Wir sind die Opfer derselben Vorurteile, die schon unter den Zaren herrschten. Der Kommunismus hat daran überhaupt nichts geändert. In Jelzins Regierung sitzen lauter Kosaken, und die Kosaken hassen uns seit Anbeginn aller Zeiten. Er hat Kosakengeneräle, Kosakenspione, Kosaken in den Ausschüssen, die über unsere neuen Grenzen zu entscheiden haben. Sie können sicher sein, daß sie uns nach Strich und Faden betrügen. Für uns hat sich die Welt in den letzten zweihundert Jahren kein bißchen geändert. Wir sind unterdrückt, wir sind gebrandmarkt, wir leisten Widerstand. Energischen Widerstand. Vielleicht sollten Sie das Ihrer Königin erzählen.«
»Wo ist Larry? Wann kann ich ihn sehen? Wann lassen Sie mich hier raus?«
Er war bereits aufgestanden, und ich dachte schon, er wolle über meine Fragen hinweggehen, denn zu meinem Bedauern hatte ich sie in einem verzweifelten Ton gestellt, der keineswegs guter Haltung entsprach. Er gab
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