Unser Spiel
verrichteten die fünf vorgeschriebenen täglichen Gebete auf Gebetsteppichen, die sie in ihrem Verschlag aufbewahrten. Die Gebete, die sie in meiner Gegenwart sprachen, waren zusätzliche Gebete und wandten sich in besonderen Angelegenheiten an bestimmte heilige Männer.
»Ist Issa Muride?« fragte ich und erntete übermütiges Lachen.
Issa ist sehr weltlich eingestellt, antworteten sie, noch immer von Lachen geschüttelt. Issa ist ein ausgezeichneter Gauner für unsere Sache! Er unterstützt uns finanziell mit seinen Schiebereien! Ohne Issa hätten wir keine Gewehre! Issa hat viele gute Freunde in der Mafia, Issa kommt aus unserem Dorf, er ist der beste Schütze im ganzen Tal, der beste in Judo und Fußball und …
Dann wieder die Stille, in der ich über Issa und seine neue Rolle als Tschetschejews Komplize und vielleicht auch als Drahtzieher bei dem Diebstahl von siebenunddreißig Millionen Pfund nachdachte …
Mein Drang, ihnen Fragen zu stellen, war freilich nichts im Vergleich zu der Neugier, die sie mir entgegenbrachten. Kaum hatten sie das Tablett vor mich hingestellt, saßen sie auch schon bei mir am Tisch und bombardierten mich mit ihren neuesten Fragen: Wie heißen die Tapfersten aller Engländer? wollten sie wissen. Wer sind die besten Krieger, Ringer, Kämpfer? War Elvis Presley Engländer oder Amerikaner? Hat die Königin unumschränkte Macht? Kann sie Dörfer zerstören lassen, Exekutionen anordnen, das Parlament auflösen? Sind die englischen Berge hoch? Ist das Parlament ein Ältestenrat? Haben die Christen geheime Orden und Sekten, heilige Männer, Scheichs und Imame? Wer bildet sie zum Kämpfen aus? Welche Waffen haben sie? Schlachten Christen ihre Tiere, ohne sie vorher ausbluten zu lassen? Und – da ich ihnen erzählt hatte, daß ich auf dem Land lebte – wie viele Hektar und wieviel Stück Vieh und Schafe besaß ich?
Meine persönlichen Verhältnisse ließen ihnen keine Ruhe. Wenn ich ein Mann war, ein richtiger Mann, warum hatte ich dann keine Frau, keine Kinder, die mich im Alter glücklich machen würden? Vergeblich erklärte ich ihnen, daß ich geschieden war. Scheidung war für sie eine Lappalie, eine Sache, die in wenigen Stunden erledigt wurde. Warum hatte ich keine neue Frau, die mir Söhne schenkte?
Von dem Wunsch beseelt, sie möchten es mir mit ähnlicher Offenheit vergelten, formulierte ich meine Antworten äußerst sorgfältig.
»Und was hat Sie beide nach Moskau verschlagen? Müßten Sie jetzt nicht in Nasran sein und studieren?« fragte ich sie eines Abends bei der zigsten Tasse schwarzen Tees.
Sie berieten sich, wer von ihnen die Ehre haben sollte, als erster zu antworten.
»Wir wurden von unserem religiösen Führer ausgewählt, einen wichtigen englischen Gefangenen zu bewachen«, erklärte der junge Mann aus dem Tal in einem Anfall von Stolz.
»Wir sind die zwei besten Krieger von Inguschien«, sagte der junge Mann aus den Bergen. »Wir sind unschlagbar, die tapfersten und besten Kämpfer, die verwegensten und treuesten!«
»Und die hingebungsvollsten!« sagte sein Freund.
Jetzt aber fiel ihnen anscheinend ein, daß Prahlerei gegen ihre Lehre verstieß, denn sie machten ernste Gesichter und sprachen leise weiter.
»Wir sind nach Moskau gekommen, um für einen Bekannten meines Onkels eine große Summe Geldes zu begleiten«, sagte der erste.
»Das Geld war in zwei schön bestickte Kissen gestopft«, sagte der zweite, »und zwar, weil Kaukasier an den Flughäfen durchsucht werden. Aber unsere Kissen waren den dummen Russen nicht verdächtig.«
»Wir nehmen an, das Geld, das wir begleitet haben, war Falschgeld, aber wir sind uns nicht ganz sicher«, sagte der erste bedächtig. »Die Inguschen sind ausgezeichnete Fälscher. Am Flughafen kam ein Mann, wies sich aus, nahm die Kissen in Empfang und fuhr mit einem Jeep davon.«
Dann diskutierten sie eine Zeitlang erregt darüber, was sie sich von dem Geld kaufen sollten, das sie für diese Arbeit bekommen hatten: eine Stereoanlage, Kleider, noch mehr goldene Ringe oder einen aus Deutschland eingeschmuggelten gestohlenen Mercedes. Aber ich hatte es nicht eilig. Ich konnte die ganze Nacht auf meine Chance warten.
»Magomed hat mir erzählt, daß ihr die Söhne von Märtyrern seid«, sagte ich, als dieses Thema erschöpft war.
Der Junge aus den Bergen wurde sehr still. »Mein Vater war blind«, sagte er. »Er hat sein Geld damit verdient, daß er den Koran auswendig aufsagen konnte. Die Osseten haben ihn vor dem ganzen
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