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Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Titel: Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabor Steingart
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verübt. Die Weltmacht zeigte in Vietnam große Muskeln und ein zu kleines Hirn. Johnsons weißes Hemd ist seither mit Blut bespritzt.
    Die Erfolge von Johnsons Sozialpolitik aber überdauerten die Generationen. Vieles, was die amerikanische Öffentlichkeit heute auf das Konto von Roosevelt bucht, gehört in Wahrheit auf die Habenseite von Johnson. Er führte Medicare und Medicaid ein, das eine Programm enthält eine Gesundheitsversicherung für Senioren und Behinderte, das andere eine für Arme. Der Anteil sozialstaatlicher Ausreichungen am Budget des Bundesstaates liegt heute – vor allem dank dieser beiden Grundabsicherungen – bei rund 60 Prozent.
    Nahezu alle Präsidenten nach dem Zweiten Weltkrieg haben den Sozialstaat expandiert, auch Ronald Reagan. Dass er in allen Umfragen als der beliebteste Präsident der US -Geschichte auftaucht, dürfte auch daran liegen, dass er anders handelte, als er redete. Er redete wie ein Krieger, aber er war der einzige Nachkriegspräsident, der das Militär zu Hause ließ. Er bezeichnete die von Sozialhilfe lebenden Bewohnerinnen der schwarzen Ghettos als » Welfare Queens « und erhöhte das Sozialbudget in seiner Regierungszeit von 313 auf 533 Milliarden Dollar. Er versprach, das staatliche Bildungsministerium aufzulösen – und erhöhte den Etat um 50 Prozent. Er kündigte Steuersenkungen und Einsparungen an. Tatsächlich senkte er die Steuern, aber er vergaß die Einsparungen.
    Es geht hier nicht um Reagan. Es geht hier um die gewandelte Psyche der amerikanischen Gesellschaft, die in seiner Politik zum Ausdruck kam. Die Marktwirtschaft, diese permanente Partnerschaft von Staat und Privatwirtschaft, die auf Regeln beruhende Zusammenarbeit von Unternehmern und Arbeitnehmern, hatte sich spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch in den USA durchgesetzt. Mit der großen Gesundheitsreform der Obama-Regierung wurden schließlich auch die bisher 35 Millionen Nicht-Versicherten in das System der Krankenversicherung eingegliedert. Viele Milliarden Dollar jährlich gibt der Staat für sie aus – und keine konservative Regierung wird es je wagen, diese Sozialleistungen wieder zu streichen.
    Auch die Rentenversicherung der USA beruht keineswegs, wie oft behauptet wird, allein auf individueller Absicherung durch Aktie und Hauseigentum. Beides spielt, wir werden das später bei der Ausrufung der Hauseigentümer-Gesellschaft durch Bill Clinton sehen, eine deutlich größere Rolle als in Deutschland. Aber der Staat greift den Senioren mittlerweile auf vielfältige Weise unter die Arme. So zahlt er an 56 Millionen Rentner eine Mindestrente, die sich pro Empfänger auf 1200 Dollar beläuft und das Staatsbudget mittlerweile mit 730 Milliarden Dollar jährlich belastet. Auch die Rentenfonds der Betriebe, über die 37 Millionen Amerikaner ihre Altersabsicherung erhalten, spielen dank staatlicher Förderung eine nicht zu unterschätzende Rolle. General Motors hat Pensionsverpflichtungen in Höhe von 139 Milliarden Dollar in seinen Büchern, Ford in Höhe von 72 Milliarden Dollar. Insgesamt besitzen derzeit 124 Millionen Amerikaner Anspruch auf eine betriebliche Altersvorsorge.
    Wenn es in Amerika eine kraftvolle Bewegung gibt, dann ist es nicht die Tea Party oder Occupy Wall Street, sondern dann ist es das lautlose, aber beharrliche Drängen der Mittelschicht auf eine bessere Absicherung gegen die großen Lebensrisiken. In der Öffentlichkeit darf seit Jahrzehnten nur der auf Applaus hoffen, der glaubhaft machen kann, dass er den Wohlstand für alle mehrt. Es wird Maß genommen an Roosevelt, Erhard und Johnson, selbst von denen, die Roosevelt, Erhard und Johnson gar nicht kennen.
    Das aus den Wirren der Großen Depression hervorgegangene Wirtschaftssystem war mehr als eine Notlösung. Da der Friedensnobelpreis in Oslo nicht nur an Menschen, sondern auch für Ideen verliehen wird, hätte ihn die friedensstiftende und wohlstandserzeugende Idee der Marktwirtschaft, der » social capitalism « , wie Richard Sennett sie nannte, verdient.
    Der zur Marktwirtschaft zivilisierte Kapitalismus erwies sich als wärmer und sympathischer, den Menschen zugewandter, als es der wölfische Kapitalismus jemals war. Das Leben mit der Marktwirtschaft und in ihr hatte mehr Annehmlichkeiten zu bieten als alles, was vorher galt. Das neue System, so schien es jahrzehntelang, produzierte Wohlstand am laufenden Band und so gut wie schwankungsfrei. Erst- und Zweitwagen, das Einfamilienhaus und die fröhliche

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