Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Titel: Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabor Steingart
Vom Netzwerk:
Durchsetzungskraft war derart tadellos und seine Herkunft aus dem Süden der USA ein unbezahlbarer Segen für den aus dem Norden stammenden Kennedy, dass dieser den Rivalen Lyndon B. Johnson unverzüglich zu seinem Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten ernannte. Gemeinsam gewann man die Wahl; Kennedy, der Elitist, und Johnson, der Advokat der Armen, schienen füreinander gemacht.
    All das hätte Johnson am Tag nach der Wahl freilich nicht viel genutzt. Wie viele Vizepräsidenten vor und nach ihm wäre er im Schatten des Präsidenten auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Doch dann fielen am 22. November des Jahres 1963 die Schüsse auf Präsident Kennedy, der im offenen Wagen durch Dallas, Texas, fuhr. Sein Vize befand sich im Wagen dahinter. 30 Minuten nach dem heimtückischen Attentat war Kennedy tot. Zwei Stunden später hieß der neue US -Präsident Lyndon B. Johnson, vereidigt in der Air Force One noch auf texanischem Boden, im Beisein der Kennedy-Witwe Jacqueline.
    Für Amerikas politische Klasse bedeutete der Kennedy-Mord ein Trauma. Für die nach Gerechtigkeit und Chancen dürstende Arbeiterschaft aber sollten die Todesschüsse das Zeichen zum Aufbruch bedeuten. In der Geschichte von Kapitalismus und Marktwirtschaft wurde nun ein neues Kapitel aufgeschlagen. Denn Johnson ergriff seine Chance. Er wurde der Ludwig Erhard Amerikas.
    Angesichts der Ausgangslage hatte er den weiteren Weg zu gehen. Noch immer waren die Amerikaner schwarzer Hautfarbe weitgehend rechtlos. Rund ein Fünftel der Amerikaner lebte unterhalb der Armutsgrenze. Noch immer diktierte Big Business die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterheere. Der amerikanische Kapitalismus wollte schnellstmöglich zur Vor-Roosevelt-Normalität, also zum wölfischen Kapitalismus, zurückkehren. Der Zweite Weltkrieg war gewonnen, der weltweite Aufstieg Amerikas hatte begonnen, die Arbeitslosen verschwanden. Der New Deal sollte, wenn es nach Wall Street und den Autobossen ging, so schnell verschwinden, wie er gekommen war.
    Johnson war anderer Meinung. Er nutzte den schon ein Jahr nach seinem überraschenden Amtsantritt anstehenden Wahlkampf, um für sein Programm, das im Kern eine Humanisierung des Wirtschaftssystems bedeutete, zu werben. Er kündigte einen » War on Poverty « an, einen » Krieg gegen die Armut « , und begann seine Idee von der » Great Society « , der » Großartigen Gesellschaft « , den Wählern in unzähligen Versammlungen zu erläutern. Sein Wahlsieg am 3. November des Jahres 1964 war der triumphalste Wahlsieg, den je ein US -Präsident errungen hatte. Die Nachrichtenagenturen sprachen von einem » Erdrutsch-Sieg « , und das war nicht übertrieben. Johnson holte 61 Prozent der abgegebenen Stimmen, was einer Ermächtigung zur Zähmung des Kapitalismus gleichkam.
    Erhards » Wohlstand für alle « fand in Johnsons » Great Society « seine Entsprechung. Johnson bat nicht um Rücksichtnahme auf die Schwachen, er forderte sie ein. Er fragte nicht nach zusätzlichen Rechten für die Arbeiter, er gab sie ihnen. Er war kein Herz-Jesu-Demokrat, sondern ein Südstaatler mit robustem Machtinstinkt. Zur Bekräftigung seiner Absichten pflegte er auf das Rednerpult einzutrommeln, und jeder Schlag war ein Nackenschlag gegen das alte, gefühlskalte System, das sein Wohlstandsversprechen immer nur befristet einhielt, und auch nie für alle.
    Am Ende von Johnsons Amtszeit war die Wirtschaft nicht mehr länger eine politikfreie Zone, die aus eigenem Recht und nach eigenen Gesetzen funktionierte. Sie war nun Teil des Ganzen. Der Wolfskapitalismus war domestiziert, was auch bedeutete, dass die Wirtschaft dichter an die Gesellschaft rückte. Ihr Auftrag lautete weiter Wohlstandsgewinnung, aber das Paradoxon der kapitalistischen Epoche, Wohlstandsgewinnung auch durch Inkaufnahme brutalster Wohlstandsvernichtung, hatte man ihr einstweilen ausgetrieben.
    Das deutsche und das amerikanische Wirtschaftssystem erlebten dank Erhard und Johnson eine stille Konvergenz. Wenn heute in der transatlantischen Debatte so viel von Unterschieden zwischen Amerika und Deutschland die Rede ist, spielen sich diese vor allem im Kulturellen ab: Die Deutschen verehren ihren Sozialstaat, und die Amerikaner genieren sich ein wenig, dass sie mit den Jahrzehnten so europäisch geworden sind. Das Selbstbild insbesondere der männlichen, weißen und vorwiegend republikanisch gesinnten Landbevölkerung ist bis heute ein anderes. Wenn man in den Spiegel schaut, sieht man einen

Weitere Kostenlose Bücher