Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition)

Titel: Unser Wohlstand und seine Feinde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabor Steingart
Vom Netzwerk:
auf Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise, das Bündeln und Verschneiden von Immobilienkrediten zu Wertpapieren sind in dieser Denkschule attraktiver als das klassische Bankgeschäft. Denn anders als im Kreditgeschäft gibt es deutlich weniger Ausfallrisiken, zumindest für die Bank. Im neuen Geschäftsmodell funktioniert das Geldhaus als Hersteller und Verkäufer von Finanzmarktprodukten, deren Risiko vor allem beim Kunden liegt. Dadurch war es möglich, mit wenig Eigenkapital die Bilanz in bis dahin unerreichte Dimensionen auszuweiten. Die Bilanzsumme der Deutsche Bank ist – zur Erinnerung sei es hier wiederholt – allein zwischen 1990 und 2010 um real 650 Prozent gewachsen.
    Die enormen Steigerungsraten der Geldindustrie wurden nie als Ausdruck eines Problems, sondern als Ausdruck einer neuen Zeit gedeutet. In den siebziger Jahren war der Wert aller Währungsgeschäfte doppelt so groß wie der Wert des realen Handelsvolumens. Im Jahr 2010 übertraf die Währungsspekulation den Handel um das 20-Fache. Der Wert aller Zinsderivate betrug 1995 rund 18 Billionen Dollar, im Jahr 2010 dagegen waren es 400 Billionen Dollar. Obwohl das globale Weltinlandsprodukt sich in dieser Zeit nur verdoppelt hatte, hatte sich das ausstehende Volumen der Zinsspekulationen verzwanzigfacht. Die täglichen Geschäfte mit Öl-Optionen entsprachen 1990 an den größten Handelsplätzen noch ungefähr dem Wert des tatsächlich produzierten und konsumierten Öls. Mittlerweile übersteigt das Spekulationsvolumen den tatsächlichen Wert der Ware um das Zehnfache.
    Das Finanzgeschehen habe sich von der Wirklichkeit gelöst, sagt der Börsenaufseher der britischen Regierung Lord Turner. Es besitze die Kraft, den Wohlstand anderer Industrien und ganzer Völker zu zerstören. Die Krise, sagt er, sei nicht nur eine Krise einzelner Banken, sondern auch eine Krise des intellektuellen Denkens. Unsere Vorstellung, dass Preise wichtige Informationen transportierten, dass Märkte sich rational verhielten und sich im Falle von Irrationalität selbst korrigierten, sei in Frage gestellt. Nur wer sich diese bitteren Wahrheiten zumute, werde bei der Suche nach Lösungen erfolgreich sein können.
    Doch viele im Investmentbanking Beschäftigten wollen sich diese Wahrheit nicht zumuten. Auch deshalb nicht, weil mit der Explosion des Spekulativen die Explosion ihrer Einkommen einherging. Allein im Jahr der Lehman-Pleite wurden an der Wall Street 17,6 Milliarden Dollar an Boni ausgeschüttet. Nach der kurzen Einkommensdelle der Jahre 2009 und 2010 ging es sogleich wieder bergauf: In 2012 wechselten in New York rund 20 Milliarden Dollar den Besitzer – von den Bankkunden zu den Bankmitarbeitern.
    Die Ausweitung des Finanzsektors war von Anfang an auch eine Ausweitung ins Halb- und Illegale, wie wir heute wissen. Der Insiderhandel blühte. Die Kursmanipulation kam in Mode. Selbst die öffentlichen Indizes, die zur Berechnung von Zehntausenden von Finanzprodukten benötigt werden, waren nicht mehr heilig. Im Skandal um den manipulierten Zinssatz Libor gibt sich die Morbidität der Branche offen zu erkennen.
    Bob Diamond, der ehemalige Chef der Investmentbank Barclays, sagte zwar, dass die Manipulateure sich außerhalb der Barclays-Kultur bewegt hätten. Aber genau das muss bezweifelt werden. Der Libor-Skandal sollte rückblickend als das Spiegelbild einer Bankenkultur gesehen werden, die sich aggressiv gegen den Kunden gewandt hatte, dessen Dienstleister sie einst war. Der Staat spielte seine Rolle dadurch, dass er keine spielte. Er war nicht der gestrenge Marktaufseher, sondern der wegschauende Komplize.
    So kam es über die Jahre zur Umkehrung der bis dahin gültigen marktwirtschaftlichen Verhältnisse. Für den Investmentbanker war es plötzlich normal, dass er ein Vielfaches seines Kunden verdiente. Für ihn war es selbstverständlich, dass er mit einem Mausklick Milliarden um die Welt schickte, ohne nach den realwirtschaftlichen Folgen zu fragen. Er hatte sich daran gewöhnt, seine Moralvorstellungen an eine schläfrige Regulierungsbehörde zu delegieren: Erlaubt war, was nicht auffiel.
    Im Gegenzug fing der Banker an, sich all jene Dinge, die in der realen Wirtschaft, die Güter herstellt oder Dienstleistungen anbietet, als Selbstverständlichkeit gelten, abzugewöhnen. Garantieleistungen für fehlerhafte Produkte lehnt man im Banksektor ab. Hat sich sein Kunde wie der griechische oder irische Staat überschuldet, reicht man die Rechnung umgehend an den

Weitere Kostenlose Bücher