Unsere Claudia
mühsam gewesen, die ganze Zeit dran zu denken.“
„Hier ist diese Form ganz in die alltägliche Rede eingegangen“, erklärte Onkel Bo. „Aber nimm es nicht so tragisch, Claudia. Solange du deutsch sprichst, ist es ganz in Ordnung, wenn du zu uns ,du’ sagst und .Sie’ zu Fremden. Laß dir also bloß nicht durch die schwedische Höflichkeit deinen Nachtschlaf stören!“
Bertil krabbelte umher, und Oma fragte nach der Reise, und Tante Helga erzählte. Claudia verstand zwar nicht all die Worte, aber sie verstand, daß Tante Helga von Großmamas Geburtstag sprach.
Claudia schwieg, und ihre Augen gingen von einem zum andern. Es war für sie neu und seltsam, an einem so großen Tisch zu sitzen, mit sechs Menschen, die zusammengehörten und einander kannten und eine Familie bildeten – ja, denn jetzt gehörte sie ja auch selbst zu dieser Familie, jedenfalls für einige Monate.
Karin war mit dem Essen fertig. Sie nahm ihre Untertasse und goß Milch hinein. Niemand achtete auf dies seltsame Gebaren, niemand unterbrach aus diesem Grunde die Unterhaltung. Karin bückte sich und stellte die Untertasse neben ihren Stuhl, und dann schlug sie mit dem Messer ein paarmal leicht und klingend gegen den Rand der Schale.
Im selben Augenblick bewegte sich irgend etwas in einem großen Ohrensessel am andern Ende des Zimmers. Über die Armlehne hüpfte etwas Weiches, Hellgraues und flitzte durch das Zimmer und auf die Schale zu.
„Oh“, rief Claudia, „das ist ja Nystan!“ Da lächelte Karin zum ersten Male Claudia richtig zu.
„Hast du schon von Nystan gehört?“ fragte sie, und ihre Stimme klang erfreut.
„Aber gewiß. Tante Helga hat mir Bilder von ihr gezeigt. Wie ist sie hübsch!“
„Ja, nicht wahr?“ sagte Karin stolz. „Ich versorge sie, denn es ist meine Katze. Und du kannst mir glauben, die ist klug! Hast du keine Katze?“
„Nein, leider nicht – aber vielleicht krieg’ ich mal eine“, fügte Claudia hinzu.
„Nystan macht so viel Spaß, kann ich dir sagen. Magst du Tiere gern?“
„Ja, furchtbar gern. Ich habe immer so viel Spaß mit dem Hund von Großmama. An den kannst du dich doch sicher noch erinnern.“
„Ach, den kenne ich noch ganz genau!“ sagte Karin. „Ich habe ihn ja damals gesehen, vor langer Zeit, als wir bei Großmama zu Besuch waren.“
Zwischen den beiden Kusinen lockerte sich etwas, Sie hatten etwas gefunden, worüber sie sprechen konnten. Und Karin plapperte in ziemlich gutem Deutsch drauflos. Tante Helga hatte darauf geachtet, daß Karin ihr Deutsch nicht vergaß. Von klein auf hatte Karin sich an die Sprache ihrer Mutter gewöhnen müssen – mit dem Ergebnis, daß sie, obwohl sie in der Schule keine Leuchte war, in Deutsch jedenfalls die Beste der Klasse wurde.
Sie waren mit dem Frühstück fertig. Und Claudia lernte, was man als erstes lernen muß, wenn man sich in skandinavischen Ländern aufhält – am Ende der Mahlzeit „danke fürs Essen“ zu sagen.
„Was ist das für eine hübsche Sitte“, sagte Claudia. „Daß man ,danke fürs Essen’ sagt, genauso, wie wenn man guten Morgen oder gute Nacht sagt – das ist eigentlich doch sehr nett.“
„Ja, und Tante Helgas Essen ist in der Regel so, daß es den Dank auch wert ist“, sagte Onkel Bo. Er lächelte seiner Frau zu und strich ihr übers Haar. „Skönt att ha dig hemma, Helgalilla“, sagte er.
Komischerweise verstand Claudia, was er sagte. Sie verstand nicht die Worte, aber sie ahnte deren Inhalt, sie las ihn aus Onkel Bos Augen ab. „Schön, daß du wieder da bist, Helgachen.“
Wie sahen sie alle miteinander so fröhlich aus! Und wie hübsch war Tante Helgas Gesicht, als sie jetzt alle mit ihrem Blick umfing – den Mann und die Kinder und die Schwiegermutter und Claudia –, alle diese Menschen, für die sie verantwortlich war, für die sie sorgte und die zu ihr gehörten.
Mit einem Male fiel Claudia ein, was Mutti in der Weihnachtsnacht zu ihr gesagt hatte: „Im Herzen einer Frau ist Platz für viel Liebe, Claudia.“
Ja, so war es bei Tante Helga! Ihr Herz hatte Platz für Onkel Bo und die Kinder und die Schwiegermutter, und in dem Augenblick, da Claudia mit zur Familie gehörte, husch, weitete sich das Herz aus, und es war auch für sie noch Platz da.
„Miau“, sagte Nystan und sprang auf Tante Helgas Schoß, während sie sich die Milchtropfen aus dem Bart wischte.
Und Tante Helgas gute, starke Hand strich Nystan über den Rücken. Auch für die kleine Katze war in Tante Helgas Herzen
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