Unsere Claudia
einem großen Park entlang. Die Bäume bogen sich unter der schweren Last des Schnees, und zu beiden Seiten des Bürgersteigs lagen hohe, zusammengefegte Schneeberge. Und wie kalt es war!
„Ja, du platzt mitten in einen echt schwedischen Winter hinein“, sagte Onkel Bo. „Aber du sollst mal sehen, was du für einen Appetit bekommst in der kalten Winterluft!“
Dann hielt das Taxi vor einem großen Miethaus, und sie waren da.
Claudia stand allein in Karins Zimmer und packte aus. Karin hatte schon die Nase in ihrer Mutter Koffer gesteckt, um zu sehen, was sie vom Ausland mitgebracht hatte. Und Brüderchen, der kleine Bertil, strampelte herum und klammerte sich an die Mutter an und war sehr niedlich. Dieses Brüderchen war anderthalb Jahre alt. Es hatte laut gekreischt vor Wonne, als es die Mutter wiedersah, und jetzt hing es an ihrem Rock wie eine kleine Klette.
Claudia hatte Karins Großmutter guten Tag gesagt. Sie war eine milde und freundliche Frau, aber sie konnte kein Wort Deutsch, man konnte sich also nur schwer verständigen. Im allgemeinen fühlte sich Claudia recht beklommen, allein schon durch die fremde Sprache, die ihr um die Ohren schwirrte, während alle von der Wiedersehensfreude ganz in Anspruch genommen waren. So hatte sie sich denn darangemacht, den Koffer auszupacken.
Oma hatte eine Couch in Karins Zimmer stellen lassen und hier Claudias Bett aufgeschlagen. Sie hatte einen kleinen Tisch neben die Couch gestellt und ihn mit einem Blumensträußchen in einer Vase geschmückt.
Wie aufmerksam von Oma – wenn Claudia sich doch nur ordentlich bedanken könnte! Aber Claudia war zu schüchtern dazu und kam sich hilflos vor.
Sie packte ihre Sachen aus und legte sie in die Kommodenschublade, die Karin ihr in aller Eile gezeigt hatte. Und dann nahm sie Muttis Bild heraus und stellte es auf das Tischchen neben die Blumen. Sie blieb davor stehen und sah es sich an. Muttis gute, klare Augen sahen sie aus dem Bild an, und es war, als wollte sie sagen: „Immer Kopf hoch, Claudia! Du weißt, ich bin immer bei dir!“
Um Claudias Mund zuckte es. Und wer weiß, was geschehen wäre, wenn Tante Helga nicht in diesem Augenblick in der Tür erschienen wäre.
„Armes Kind, stehst du hier ganz allein und verlassen – du mußt mich entschuldigen, Claudia, meine gräßliche Familie hatte mich ganz mit Beschlag belegt. Laß jetzt den Koffer erst mal stehen, wir wollen frühstücken – hat Karin dir gezeigt, wo das Badezimmer ist? Du willst dich sicher ein wenig zurechtmachen – nein, dachte ich es mir nicht, sie hat ihre Gedanken überall woanders – hier, mein Kind, sind Handtücher und Seife – ich hol’ dir gleich ein Zahnputzglas – mach dich fertig, und dann trinken wir Kaffee.“ Claudia sah sich im Badezimmer um. Es war klein, aber praktisch und blitzend sauber. Und hier gab es auch so eine schlaue Vorrichtung mit einem Spiegel, der einen ganzen Schrank verdeckte. Genau wie im Schlafwagenabteil. Und an den Borden drinnen im Schrank waren kleine Schildchen angebracht, und was auf denen stand, das konnte Claudia verstehen – denn diese Worter sind fast in allen Sprachen gleich:
„Papa“ – das war das oberste Bord, und hier lagen Rasiersachen und eine Herrenhaarbürste, und da lag ein Schächtelchen für gebrauchte Rasierklingen, und dann stand da ein grüner Becher mit einer großen Zahnbürste.
Das nächste Bord hieß „Mama“, und hier gab es kleine hellrosa Flaschen und Büchsen und Schachteln, und eine rosa Zahnbürste in einem rosa Becher.
„Karin“ gehörte das nächste Bord. Hier stand eine Flasche mit Sonnenöl, hier lag Heftpflaster, ein Kamm, der noch voller Haare war, und eine Zahnbürste, an der noch Reste von Zahnpasta klebten. Zahnpastaflecke saßen auch auf dem hellblauen Becher. Mitten zwischen den Toilettensachen stand außerdem eine fettige Schachtel mit Skiwachs.
Claudia lernte vor diesem Schrank die Familie kennen.
Das unterste Bord war leer. Und hier hinein legte Claudia ihre Sachen, und es war ihr gar nicht bewußt, daß sie ganz besonders sorgsam dabei verfuhr und alles sehr sauber und ordentlich auf seinen Platz stellte.
Karins Bord gefiel ihr nicht.
Sie machte die Spiegeltür wieder zu, verließ das Badezimmer und drehte das Licht aus.
An dem einen Ende eines großen Zimmers war der Frühstückstisch gedeckt. Die Wand hinter dem Tisch war von lauter Schränken und Schubfächern eingenommen, und als Tante Helga einen der Schränke öffnete, konnte Claudia
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