Unsere Claudia
das willst du nicht laut sagen, Tante Helga?“
„Es kam mir plötzlich so lieblos vor“, lächelte Tante Helga.
„Denkst du, ich sei so furchtbar dumm?“ fragte Claudia. „Das begreif ich doch, daß eine Mutter ihre eigenen Kinder am liebsten hat!“
Es war Abend.
Claudia lag allein in ihrem und Karins gemeinsamen Schlafzimmer. Um sie herum war alles sauber und frisch und ordentlich. Das Fenster stand angelehnt, und die kühle Abendluft strich herein.
Aber Claudia konnte nicht einschlafen. Sie war allein, und sie genoß es, allein zu sein. Sie hatte ein Bedürfnis danach. Sie mußte nachdenken – alles das durchdenken, was ihr an diesem Tage klargeworden war.
Karin war eifersüchtig. Schlecht und recht eifersüchtig! Aber da war noch etwas anderes, und das war viel, viel schlimmer: Es war ja genau das gleiche, was auch mit ihr los gewesen war. Eifersucht war es gewesen, was sie damals im Winter gepeinigt hatte. Eifersucht auf Onkel Peter – diesen guten, freundlichen Onkel, der nur ihr Bestes wollte. Ja, so schlecht und selbstsüchtig war sie gewesen, daß sie sich gefreut haben würde, wenn Mutti gesagt hätte: „Claudia, ich heirate doch nicht, wir werden weiterhin so leben wie bisher.“
Es wäre so logisch, so richtig gewesen, wenn sie damals Mutti gesagt hätte: „Mutti, eines Tages werde ich vielleicht heiraten. Eines Tages werde ich dich verlassen müssen. Ich freue mich, daß du dann nicht allein sein wirst.“ Und dann hätte sie mit einer aufrichtigen Freude Onkel Peter willkommen heißen müssen!
Vielleicht würde es in wenigen Jahren – vielleicht schon in sechs bis sieben Jahren – so weit sein, daß Claudia sich selbständig machte. Hätte Mutti auf ihr Glück verzichten sollen, um noch diese wenigen Jahre mit Claudia allein zu verbringen, weil es ihrem verwöhnten Fräulein Tochter so paßte?
O pfui, pfui, wie abscheulich und schlecht war sie gewesen!
Liebe, gute Mutti. Mutti, die immer müde war, Mutti, die fast nie in ihrer eigenen Wohnung sein konnte. Mutti, die jung war und hübsch, und die nie einen guten Mann gehabt hatte, der ihr die Steine aus dem Wege räumte, für sie dachte und handelte – so wie es Onkel Bo für Tante Helga tat.
Jetzt wußte Claudia auf einmal, was sie damals hätte tun müssen.
Sie hätte zu Onkel Peter sagen müssen: „Ich bin so froh, daß du dich meiner Mutter annehmen willst – wir wollen es ihr miteinander schön machen, das können wir beide am allerbesten, weil wir sie liebhaben!“
Aber es war nicht zu spät! Ach, Gott sei Dank, es war noch nicht zu spät.
Daheim saß Mutti und sehnte sich nach ihr. Der Teil von Muttis großem, warmem Herzen, der Onkel Peter gehörte – der war glücklich, denn sie hatte Onkel Peter um sich. Aber der Teil, der Claudia gehörte, der hatte Sehnsucht, der brannte vor Sehnsucht!…
Mit einem Satz war Claudia aus dem Bett. Sie machte geräuschlos das Fenster zu und hüllte sich in ihren warmen Bademantel. Dann knipste sie die Lampe auf Karins Schreibpult an.
Und zum erstenmal in ihrem dreizehnjährigen Leben verbrachte Claudia Keller die Nachtstunden damit, einen Brief zu schreiben. Die Worte flossen ihr nur so aus der Feder – sie schrieb so rasch, so rasch – es hatte Eile – oh, wie sehr es Eile hatte…
Mutti, meine allerliebste Mutti, ich möchte nach Hause! Liebste Mutti, ich habe solche Sehnsucht nach Dir, und ich sehne mich auch nach Onkel Peter. Und ich möchte so gern wieder in die Schule. Glaubst Du nicht, daß ich versetzt werde, auch wenn ich so lange gefehlt habe? Onkel Peter sagte, als ich wegfuhr, ich brauchte nur zu schreiben, wann ich nach Hause wollte, dann würdet Ihr mir die Fahrkarte schicken. Seid doch so lieb und tut das jetzt, ich möchte so gern Ostern nach Hause!
Alle hier sind lieb zu mir, Mutti, das hat gar nichts damit zu tun. Und Nystan und Bertillein werde ich bestimmt sehr vermissen. Karin auch, aber nicht so sehr wie Bertil, denn den habe ich jetzt drei Monate täglich versorgt. Ich freue mich schrecklich darauf, nach Hause zu kommen, und ich weiß, alles wird so schön, aber trotzdem – Du und Onkel Peter, Ihr habt einander, und ich muß daran denken, wie schön es doch wäre, wenn ich Bertil in den Koffer packen und mitnehmen könnte. Ich könnte fast neidisch sein auf Karin, daß sie ein Brüderchen hat! Aber eine Muschi können wir uns doch anschaffen, Mutti? Du verstehst, ich muß irgendwas haben, das ich umsorgen kann, irgend jemanden, auf den ich
Weitere Kostenlose Bücher