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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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umgeschlagen. Auf einmal entdeckte ich ihre Sinnlichkeit, und die fade, uninteressante Frau, die keinen einzigen Gedanken im Kopf zu haben schien, entpuppte sich als sehr viel klüger, als ich sie mir vorgestellt hatte. Mindestens zweimal im Lauf des Essens hatte sie mich gegen Born verteidigt und genau in den Augenblicken interveniert, als die Lage außer Kontrolle zu geraten schien. Ruhig, immer ruhig, fast flüsternd, und doch erzielten ihre Worte jedes Mal die gewünschte Wirkung. Irritiert von Borns stichelnden Andeutungen, überzeugt, dass er mich in irgendwelche voyeuristische Spielchen hineinzuziehen versuchte - wollte er zusehen, wie ich mit Margot schlief? -, war ich davon ausgegangen, dass sie mit ihm unter einer Decke steckte, und hatte mich daher distanziert und abweisend verhalten. Jetzt aber war Born auf der anderen Seite des Atlantiks, und Margot wollte mich immer noch sehen. Das konnte nur eines bedeuten. Jetzt begriff ich, es war immer nur um dieses Eine gegangen, gleich von dem Augenblick an, als sie mich auf der Party allein in einer Ecke hatte stehen sehen. Deswegen hatte Born sich beim Essen so bärbeißig benommen - nicht weil er mich zu verworfenen Sexspielen anstacheln wollte, sondern weil er wütend auf Margot war, die ihm erzählt hatte, dass sie sich zu mir hingezogen fühlte.
    Fünf Abende kochte sie für uns, und fünf Nächte schliefen wir miteinander im Gästezimmer am Ende des Flurs. Wir hätten auch das andere Schlafzimmer nehmen können, das größer und gemütlicher war, aber dorthin wollten wir beide nicht. Das war Borns Zimmer, die Welt von Borns Bett, und in diesen fünf Nächten machten wir es uns zur Aufgabe, uns eine eigene Welt zu erschaffen, und schliefen in dem winzigen Zimmer mit dem einen vergitterten Fenster und dem schmalen Bett, das wir das Bett der Liebe nannten, auch wenn Liebe am Ende nichts mit dem zu tun hatte, was in diesen fünf Tagen mit uns geschah. Wir waren nicht, wie man so sagt, voneinander angetan, sondern eher taten wir uns einander an, und in dem sehr intimen Raum, den wir in dieser kurzen, kurzen Zeit bewohnten, war Genuss unsere einzige Beschäftigung. Wir genossen Essen und Trinken, wir genossen Sex, wir genossen es, animalisch wortlos in einer Sprache miteinander zu kommunizieren, die nur aus Schauen und Berühren, Beißen, Schmecken und Streicheln bestand. Das heißt nicht, dass wir nicht redeten, aber wir beschränkten unsere Gespräche auf ein Minimum, wobei es meist ums Essen ging - Was wollen wir morgen Abend essen? -, und die Worte, die wir beim Essen austauschten, waren belanglos und banal, nicht wirklich von Bedeutung. Nie stellte Margot mir Fragen über mich selbst. Von meiner Vergangenheit wollte sie nichts wissen, sie war nicht neugierig auf meine Ansichten zu Literatur und Politik, und mein Studium interessierte sie nicht. Sie nahm mich einfach als das, was sie in mir sah - ihre aktuelle Wahl, das körperliche Wesen, das sie begehrte -, und immer, wenn ich sie ansah, spürte ich, wie sie mich mit den Augen verschlang, als sei es ihr Befriedigung genug, mich in Reichweite vor sich zu haben. Was erfuhr ich in diesen Tagen von ihr? Sehr wenig, so gut wie nichts. Sie war in Paris aufgewachsen, das jüngste von drei Geschwistern; Born war ihr Cousin zweiten Grades. Seit zwei Jahren waren die beiden zusammen, aber sie glaubte nicht, dass es noch viel länger halten würde. Anscheinend beginne sie ihn zu langweilen, sagte sie, und sie selbst fände sich auch immer langweiliger. Sie zuckte die Achseln, als sie das sagte, und als ich ihre distanzierte Miene dabei sah, kam mir der schreckliche Verdacht, dass sie sich bereits für halb gestorben hielt. Danach drängte ich sie nicht mehr, sich mir zu öffnen. Es reichte, dass wir zusammen waren, und mich schreckte die Vorstellung, zufällig an etwas zu rühren, was ihr Schmerzen bereiten könnte.
    Ohne Schminke war Margot weicher und erdgebundener als das umwerfende weibliche Objekt, das sie in der Öffentlichkeit darstellte. Ohne Kleider erwies sie sich als schlank, nahezu mager, mit kleinen, fast pubertären Brüsten, schmalen Hüften und sehnigen Gliedmaßen. Sie besaß volle Lippen, einen flachen Bauch mit leicht vorstehendem Nabel, zarte Hände, buschiges Schamhaar, feste Hinterbacken und eine außerordentlich weiße Haut, die sich glatter anfühlte als jede andere Haut, die ich jemals berührt hatte.
    Die Einzelheiten eines Körpers, die nebensächlichen, kostbaren Details. Anfangs, als ich

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