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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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wenigen Schlucken dieser brennenden, bernsteinfarbenen Flüssigkeit war er so weggetreten, dass an ein vernünftiges Gespräch nicht mehr zu denken war. Ja, er nannte mich abermals einen Feigling, weil ich nicht nach Vietnam wollte, aber die meiste Zeit redete er mit sich selbst, verfiel in einen ausgedehnten, hin und her schweifenden Monolog über alle möglichen verschiedenen Themen, während ich schweigend zuhörte und Margot in der Küche Töpfe und Pfannen spülte. Unmöglich, mehr als Bruchstücke von dem wiederzugeben, was er sagte, aber die Hauptpunkte habe ich behalten, insbesondere seine Erinnerungen an Kampfhandlungen in Algerien, wo er als Angehöriger der französischen Armee zwei Jahre lang dreckige arabische 'Terroristen verhörte und jeglichen Glauben an irgendwelche Ideale von Gerechtigkeit verlor, die er einmal gehabt haben mochte. Schwülstige Erklärungen, wüste Verallgemeinerungen, verbitterte Behauptungen über die Korruptheit sämtlicher Regierungen - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; links, rechts und Mitte -, und dass unsere sogenannte Zivilisation nichts anderes sei als eine dünne Tünche zur Tarnung von Barbarei und Grausamkeit, die sich dahinter austobten wie eh und je. Menschen seien Tiere, sagte er, und feingeistige Ästheten wie ich seien nicht besser als Kinder, die mit philosophischen Haarspaltereien über Kunst und Literatur herumspielten, um sich nur nicht der elementaren Wahrheit der Welt stellen zu müssen. Macht sei die einzige Konstante, und das Gesetz des Lebens laute: töten oder getötet werden, herrschen oder der Grausamkeit von Ungeheuern zum Opfer fallen. Er sprach von Stalin und den Millionen, die während der Kollektivierung in den Dreißigern ihr Leben verloren. Er sprach von den Nazis und vom Krieg, und dann kam er mit der erschreckenden Hypothese, Hitlers Bewunderung für die Vereinigten Staaten habe ihn dazu inspiriert, die amerikanische Geschichte zum Vorbild für seine Eroberung Europas zu nehmen. Sehen Sie sich die Parallelen an, sagte Born, und es ist nicht so weit hergeholt, wie man meinen sollte: die Vernichtung der Indianer wird zur Vernichtung der Juden; die Ausdehnung nach Westen, um an die natürlichen Rohstoffe zu gelangen, wird zur Ausdehnung nach Osten zu genau demselben Zweck; die Versklavung der Schwarzen, um billige Arbeitskräfte zu gewinnen, wird zur Unterwerfung der slawischen Völker, ebenfalls zum selben Zweck. Lang lebe Amerika, Adam, sagte er und schenkte uns noch einmal Cognac nach. Lang lebe die Finsternis in uns.
    Je länger ich mir seine Tiraden anhörte, desto mehr bedauerte ich ihn. So entsetzlich seine Sicht der Dinge war, konnte ich doch nur Mitleid haben mit einem Mann, der so tief in Pessimismus versunken war, der sich so halsstarrig vor der Möglichkeit verschloss, dass bei seinen Mitmenschen auch Barmherzigkeit, Anstand oder Schönheit zu finden sein könnten. Born war erst sechsunddreißig, aber schon eine ausgebrannte Seele, ein zerrüttetes Wrack, und ich stellte mir vor, dass er im Innersten schrecklich leiden und in ständigem Schmerz leben musste, zerfleischt von den wühlenden Klingen der Verzweiflung, der Erbitterung und Selbstverachtung.
    Margot kam ins Esszimmer zurück, und als sie sah, in welchem Zustand sich Born befand - blutunterlaufene Augen, vernuschelte Rede, sein Körper so stark nach links geneigt, als könnte er jeden Augenblick vom Stuhl fallen -, legte sie ihm eine Hand auf den Rücken und erklärte ihm freundlich auf Französisch, die Party sei vorbei, er solle machen, dass er ins Bett komme. Erstaunlicherweise protestierte er nicht. Er nickte, murmelte mehrmals mit tonloser, kaum hörbarer Stimme das Wort merde, ließ sich von Margot auf die Beine helfen, und gleich darauf brachte sie ihn aus dem Zimmer in den Flur, der in den hinteren Teil der Wohnung führte. Hat er mir gute Nacht gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Ich blieb noch einige Minuten auf meinem Stuhl sitzen, weil ich annahm, dass Margot zurückkommen und mich hinausbegleiten würde, doch als sie sich auch nach einer, wie mir schien, unmäßig langen Zeit nicht wieder hatte blicken lassen, stand ich auf und ging zur Wohnungstür. Und da sah ich sie aus einem Schlafzimmer am Ende des Flurs auftauchen. Ich wartete, während sie auf mich zukam, und als wir einander gegenüberstanden, legte sie mir eine Hand auf den Unterarm und entschuldigte sich für Rudolfs Betragen.
    Ist er immer so, wenn er trinkt?, fragte ich.
    Nein, so gut wie nie,

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