Unsichtbar
Ohne ein Wort zu sagen, hebt er die rechte Hand, krümmt den Zeigefinger und bedeutet dir mit einer ungeduldigen Gebärde, ihm zu folgen. Der kleine Mann watschelt dir voran den Gang hinunter, wendet sich, am Korridor angekommen, nach rechts, geht an einem Regal vorbei, an einem zweiten, und biegt wiederum nach rechts in einen Gang mit Werken zur Geschichte Frankreichs im Mittelalter ein. Du warst mit deinem Karren erst zwanzig Minuten zuvor in diesem Gang, um einige Bücher über das Leben in der Normandie im zehnten Jahrhundert einzuordnen, und natürlich steuert Mr. Goines exakt auf die Stelle zu, an der du zu tun gehabt hast. Er zeigt auf das Regal und sagt: Sehen Sie sich das an. Und so bückst du dich und siehst hin. Zunächst vermagst du nichts Außergewöhnliches zu erkennen, aber dann zieht Mr. Goines zwei Bücher heraus, zwei Bücher, die keine dreißig Zentimeter voneinander entfernt stehen, mit drei oder vier dicken Wälzern dazwischen. Dein Vorgesetzter hält dir die zwei Bücher unter die Nase, und du begreifst, du sollst die auf den Rücken geklebten Dewey-Dezimalzahlen lesen, und erst da wirst du dir deines Irrtums bewusst. Du hast die Bücher in der falschen Reihenfolge eingestellt, das erste dorthin, wo das zweite hingehört hätte, und das zweite dorthin, wo das erste hingehört hätte. Bitte, sagt Mr. Goines mit ziemlich arroganter Stimme, tun Sie das nie wieder. Ein falsch eingeordnetes Buch kann für zwanzig Jahre oder mehr, vielleicht für immer unauffindbar bleiben.
Mag sein, das ist eine Kleinigkeit, aber deine Nachlässigkeit demütigt dich. Nicht dass die beiden Bücher tatsächlich für immer verloren gewesen wären (immerhin standen sie im selben Regal und nicht sehr weit auseinander), aber du verstehst schon, was Mr. Goines dir damit sagen will, und auch, wenn sein herablassender Tonfall dich im Innersten empört, bittest du um Verzeihung und versprichst, in Zukunft aufmerksamer zu sein. Du denkst: Zwanzig Jahre! Für immer! Die Vorstellung setzt dich in Erstaunen. Tu etwas an den falschen Platz, und obwohl es noch da ist - womöglich unmittelbar vor deiner Nase -, kann es bis in alle Ewigkeit verschwunden bleiben.
Du gehst zu deinem Karren zurück und machst dich wieder daran, Bücher zur Geschichte Deutschlands im Mittelalter einzuordnen. Bis jetzt hast du nicht gewusst, dass man dir nachspioniert. Der Gedanke stößt dir übel auf, und du sagst dir, du musst vorsichtig sein, immer auf der Hut, nichts mehr für selbstverständlich halten, nicht einmal in den harmlosen, einschläfernden Räumlichkeiten einer Universitätsbibliothek.
Das Einsortieren nimmt etwa den halben Tag in Anspruch.
Die andere Hälfte verbringst du hinter einem kleinen Tisch in einer der oberen Etagen, wo du darauf wartest, dass dir aus den Eingeweiden des Gebäudes ein Rohrpostzylinder mit einem Ausleihzettel entgegenrauscht, der dir gebietet, dieses oder jenes Buch für den Studenten oder Professor, der soeben unten danach gefragt hat, auf der Stelle herbeizuholen. Die Rohrpost saust mit einem charakteristisch klappernden Geräusch ihrem Bestimmungsort zu, und du hörst sie, sobald sie ihren Aufstieg beginnt. Das Magazin erstreckt sich über mehrere Stockwerke, und da du nur einer von mehreren Laufburschen bist, die über die Stockwerke verteilt an ebensolchen Tischen sitzen, weißt du nicht, ob die Rohrpost mit dem aufgerollten Ausleihzettel darin für dich oder einen deiner Kollegen bestimmt ist. Das erfährst du erst in allerletzter Sekunde, aber wenn sie tatsächlich für dich bestimmt ist, schießt der Metallzylinder aus einer Öffnung in der Wand hinter dir, landet mit krachendem Schwung im Kasten und löst damit einen Mechanismus aus, der die vierzig oder fünfzig überall an der Decke der Etage angebrachten roten Glühbirnen einschaltet. Diese Lämpchen sind unentbehrlich, denn oft geschieht es, dass du beim Eintreffen der Rohrpost nicht an deinem Tisch bist, weil du gerade nach einem anderen Buch suchst, und das Aufleuchten der Lichter macht dich darauf aufmerksam, dass eine neue Bestellung eingetroffen ist. Bist du aber an deinem Tisch, nimmst du den Ausleihzettel aus dem Rohr, holst das gewünschte Buch, manchmal auch mehrere, kehrst an deinen Tisch zurück, steckst die Ausleihzettel in die Bücher (wobei darauf zu achten ist, dass oben ein Stück von etwa fünf Zentimetern herausragt), packst die Bücher in den Aufzug in der Wand hinter deinem Tisch und drückst den Knopf für die zweite Etage.
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