Unsichtbar
Zum Abschluss der Operation schiebst du das leere Rohr in ein kleines Loch in der Wand und schickst es zurück. Du vernimmst ein wohliges wuuusch, wenn der Zylinder in das Vakuum gesaugt wird, und nicht selten verharrst du noch einen Augenblick und folgst dem Geräusch des rappelnden Geschosses auf seinem Weg durch die Rohrleitung nach unten. Dann gehst du wieder an deinen Tisch. Du setzt dich auf den Stuhl. Du sitzt da und wartest auf die nächste Bestellung.
Oberflächlich betrachtet ist gar nichts dabei. Was könnte simpler oder weniger anspruchsvoll sein als Bücher in einen Aufzug laden und auf einen Knopf drücken? Nach der Plackerei des Einsortierens solltest du meinen, die Tätigkeit am Tisch müsste dir als willkommene Atempause erscheinen. Solange keine Bücher zu holen sind (und an manchen Tagen kommt die Rohrpost nur drei- oder viermal in ebenso vielen Stunden), kannst du tun, was du willst. Zum Beispiel kannst du lesen oder schreiben, du kannst durch die Gänge schlendern und in geheimnisvollen Büchern herumstöbern, du kannst Bilder malen, du kannst ein Nickerchen einlegen. Zeitweise gelingt dir das eine oder andere, oder du versuchst es wenigstens, aber die Atmosphäre im Magazin ist so bedrückend, dass es dir schwerfällt, dem Buch, das du liest, oder dem Gedicht, das du schreibst, über längere Zeit hinweg Aufmerksamkeit zu widmen. Du kommst dir vor wie in einem Brutkasten gefangen, und nach und nach gelangst du zu der Erkenntnis, dass du in der Bibliothek nur eins tun kannst, ausschließlich eins: von Sex träumen. Du weißt nicht, warum dir das widerfährt, aber je länger du dich in dieser nicht atembaren Luft aufhältst, desto mehr füllt sich dein Kopf mit Bildern von nackten Frauen, schönen nackten Frauen, und du kannst an nichts anderes mehr denken (falls denken in diesem Zusammenhang der richtige Ausdruck ist), als schöne nackte Frauen zu vögeln. Nicht in irgendeinem sinnlich ausgeschmückten Boudoir, nicht auf einer verschwiegenen arkadischen Wiese, sondern hier in der Bibliothek, wo der Staub von Millionen Büchern dich umschwebt, willst du es schwitzend und hemmungslos auf dem Fußboden treiben. Du vögelst Hedy Lamarr. Du vögelst Ingrid Bergman. Du vögelst Gene Tierney. Du paarst dich mit Blonden und Brünetten, mit Schwarzen und Chinesinnen, mit allen Frauen, nach denen es dich je gelüstet hat, mit einer, mit zweien, mit dreien. Die Stunden schleppen sich dahin, und du sitzt im dritten Stock der Butler Library an deinem Tisch und spürst deinen Schwanz hart werden. Er ist jetzt immer hart, so hart, wie ein Ständer nur sein kann, und manchmal wird der Druck so stark, dass du deinen Tisch verlässt, den Korridor hinunter zur Herrentoilette läufst und in die Schüssel wichst. Du ekelst dich an. Du bist entsetzt, wie schnell du deinen Begierden nachgibst. Du ziehst den Reißverschluss hoch und schwörst dir, dass das nie wieder passieren wird, und genau das hast du dir vierundzwanzig Stunden zuvor auch schon geschworen. Scham verfolgt dich auf dem Weg zu deinem Tisch zurück, und du setzt dich hin und überlegst, ob dir nicht ernsthaft etwas fehlt. Du kommst zu dem Schluss, dass du noch nie so einsam warst, dass du der einsamste Mensch auf der Welt bist. Du denkst, du steuerst auf einen Zusammenbruch zu.
Deine Schwester fragt dich: Was meinst du, Adam? Sollen wir übers Wochenende nach Hause fahren, oder bleiben wir hier und schlagen uns in New York durch?
Wir bleiben, antwortest du beim Gedanken an die Busfahrt nach New Jersey und die vielen Stunden, die du dort mit deinen Eltern reden müsstest. Wenn es uns in der Wohnung zu heiß wird, sagst du, können wir jederzeit ins Kino gehen. Im New Yorker und im Thalia laufen am Samstag und Sonntag ein paar gute Sachen, und in den klimatisierten Sälen haben wir es schön kühl.
Es ist Anfang Juli, seit zwei Wochen lebst du mit deiner Schwester zusammen. Da alle deine Freunde den Sommer über nicht in der Stadt sind, ist Gwyn der einzige Mensch, mit dem du Kontakt hast - abgesehen von deinen Kollegen in der Bibliothek, aber die zählen eigentlich nicht viel. Du hast zurzeit keine Freundin (Margot war die letzte Frau, mit der du geschlafen hast), und deine Schwester hat sich vor kurzem von dem jungen Professor getrennt, mit dem sie die letzten anderthalb Jahre zusammen war. Ihr beide habt also nur euch selbst, aber daran ist nichts verkehrt, findest du, und alles in allem bist du mehr als zufrieden damit, wie die Dinge sich
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