Unsichtbar
entwickelt haben, seit sie bei dir eingezogen ist. Du fühlst dich vollkommen wohl in ihrer Gesellschaft, mit ihr kannst du offener reden als mit jedem anderen, den du kennst, und euer Verhältnis ist bemerkenswert frei von Konflikten. Ab und zu ärgert sie sich über dich, wenn du nicht abgewaschen oder im Bad ein Chaos hinterlassen hast, aber nach solchen Fällen häuslichen Versagens versprichst du ihr jedes Mal, dich zu bessern und deine Nachlässigkeit abzustellen, und ganz allmählich machst du tatsächlich Fortschritte.
Die Sache läuft also gut, genau wie du es dir vorgestellt hattest, als du ihr den Vorschlag unterbreitet hast, und jetzt, wo du bei deiner Arbeit im Schloss des Gähnens langsam in die Brüche gehst, begreifst du, dass das Zusammenleben mit deiner Schwester dich davor bewahrt, den Verstand zu verlieren, dass sie mehr als jede andere die Macht besitzt, die verzweifelte Stimmung aufzuhellen, in der du bist. Andererseits hat eure Wohngemeinschaft einige seltsame Konsequenzen, Folgen, die du nicht vorhergesehen hast, als ihr im Frühjahr darüber gesprochen habt, wieder zusammenzuziehen. Jetzt fragst du dich, wie du so blind gewesen sein konntest. Du und Gwyn seid Bruder und Schwester, ihr gehört zur selben Familie, und daher ist es nur natürlich, dass ihr bei euren ausgedehnten Gesprächen auch auf Familienangelegenheiten zu sprechen kommt - Bemerkungen über eure Eltern, Anspielungen auf Vergangenes, Erinnerungen an kleine Details aus eurer gemeinsamen Kindheit -, und da diese Themen von euch in den letzten Wochen so oft berührt wurden, denkst du jetzt auch schon daran, wenn du allein bist. Du willst nicht daran denken, aber du tust es. In den letzten zwei Jahren hast du bewusst versucht, deinen Eltern aus dem Weg zu gehen, hast alles getan, sie dir vom Leib zu halten, und bist nur nach Westfield gefahren, wenn du wusstest, dass Gwyn ebenfalls dort sein würde. Du liebst deine Eltern noch, aber du kannst sie nicht mehr besonders leiden. Zu dieser Erkenntnis bist du gekommen, nachdem deine Schwester aufs College gegangen ist und dich für die letzten beiden Highschool-Jahre mit ihnen alleingelassen hat, und als du schließlich selbst aufs College gegangen bist, hast du dich gefühlt, als seist du aus dem Gefängnis ausgebrochen. Nicht dass du dir etwas auf dieses Gefühl einbildest - im Gegenteil, es widert dich an, du bist entsetzt von deiner Kälte und Herzlosigkeit -, und du beschimpfst dich unablässig, weil du Geld von deinem Vater annimmst, der für dich sorgt und deine Ausbildung finanziert, aber du musst studieren, um nicht bei ihm und deiner Mutter sein zu müssen, und da du über kein eigenes Geld verfügst und dein Vater so viel verdient, dass du kein Stipendium bekommen kannst, bleibt dir nichts anderes übrig, als dich in der Schande deiner Heuchelei zu wälzen. Also läufst du davon, und beim Laufen weißt du, dass du um dein Leben läufst, dass du, wenn es dir nicht gelingt, den Abstand zwischen dir und deinen Eltern zu halten, dahinwelken und sterben wirst, sterben wirst wie dein Bruder Andy, als er am 10. August 1957 im Echo Lake ertrank, jenem kleinen See in New Jersey mit dem unheimlich passenden Namen, denn auch Echo welkte dahin und starb, und nachdem ihr geliebter Narcissus ertrunken war, blieb nichts von ihr übrig als ein Haufen Knochen und das Wimmern ihrer vom Körper losgelösten, unauslöschlichen Stimme.
Du willst nicht an diese Dinge denken. Du willst nicht an deine Eltern denken und die acht Jahre, die du in einem Haus der Trauer eingemauert warst. Du warst zehn, als Andy starb, und ihr beide, du und Gwyn, verbrachtet den Sommer in einem Ferienlager im Staat New York und wart also nicht anwesend, als der Unfall passierte. Eure Mutter war allein mit dem siebenjährigen Andy und wollte mit ihm eine Woche in dem kleinen Bungalow am See verbringen, den euer Vater 1949 gekauft hatte, als du und deine Schwester noch ganz kleine Kinder wart, dem Schauplatz der Sommer eurer Familie, dem Schauplatz verqualmter Grillabende und von Moskitos geplagter Sonnenuntergänge, und die Ironie des Schicksals wollte es, dass sie bereits beschlossen hatten, das Anwesen zu verkaufen, dass dies der letzte Sommer am Echo Lake sein sollte, nur eine Fahrstunde von zu Hause entfernt, aber nicht mehr der stille Zufluchtsort von einst, nachdem dort so viele neue Häuser gebaut worden waren, und so gab eure Mutter der nostalgischen Anwandlung nach und fuhr mit Andy allein noch einmal dorthin,
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